Bräuche.

Ich sitze auf einem Hotelbalkon. Ein Touristendorf in Österreich. Holz an den Fassaden. Trachten auf der Straße. Fahnen und Dialekt. Vertieft ins Lesen höre ich die Kinder nicht mehr im Zimmer toben. Als es aus dem Tal tief und ungeheuer drängend knallt, schaue ich kurz über den Rand des Buches. Erschreckt hat mich nur die Plötzlichkeit der Explosion, wo sonst alles so ruhig sein will, dass es in Prospekte passt.

An Silvester sagt man dann: Die armen Tiere, sie erschrecken von so einem fremden Geräusch! Die armen Flüchtlinge, sie müssen jetzt an die Gewalt ihrer Heimat denken! Die armen Kinder, sie könnten aufwachen!

Ich fühle mich so sicher, dass ich beim Gang vorbei an der Rezeption vergessen werde, nach dem Ursprung des Knallens zu fragen.

Unter Strom / Vorsätze

Seit Monaten schiebe ich das Schreiben im Blog vor mir her. Schreibe anderswo und anderes. Texte für den Unterricht, Notizen zur Arbeit, Protokolle für Konferenzen, Gutachten, Zeugnisse.

Das Bloggen fehlt mir. Gleichzeitig verdränge ich sein Fehlen. Warum?

Bloggen ist eine Übung. So wie man „Üben“ mönchisch denken kann. Im Englischen klingt das nach: „exercise“, „Exerzitien“. Weltlich zwar, vertiefend aber dennoch, und eine Übung, deren Ziel auch im Einüben einer Haltung liegt. Immer unfertig. Nur eine Pausetaste. Kein Stopp. Kein Ende des Magnetbands, der Seite, der Sendezeit. Stream of consciousness. Strom und Bewusstsein haben nicht erst im Digitalen etwas miteinander zu schaffen. Alles wird in diesem Schreiben nur vorläufig geordnet, um wieder mitgenommen zu werden in andere Ströme. Die potenzielle Öffentlichkeit hilft dabei. Jemand könnte das lesen. Schreiben als Einübung in das Vorläufige des Nachdenkens.

30 Ways to Shock Yourself

Nicht immer wünschenswert: Unter Strom stehen. (Das Bild hat Bre Pettis auf Flickr gepostet – es ist aus einer Sammlung namens „30 Ways to Shock Yourself“)

Schwierig nur: Das Arbeiten an der Schule ist dieses Jahr so viel einnehmender. Es ist das dritte Jahr überhaupt, im zweiten Jahr bin ich Klassenbetreuer, im ersten Jahr kümmere ich mich um die pädagogische Konferenz. Mehr Fragen, mehr Aufgaben, mehr Ansprüche, mehr Entscheidungen, mehr Erklärungen zu geben, mehr Erwartungen zu erfüllen. Verantwortung eben. Ich verdränge mein Bloggen vielleicht auch, weil ich gern all den Ansprüchen gerecht werden würde. Typisch auch für LehrerInnen: Antworten haben wollen. Etwas zuende bringen wollen.

Ob das besonders typisch für Waldorfschulen ist, viele behaupten das ja, das weiß ich nicht. Mir jedenfalls macht es das schwer, die Leichtigkeit des Aus- und Wiedereintauchens in ein leichteres, treibendes Dahinschreiben zu bewahren. Paradox – die Vorläufigkeit fehlt somit gerade weil ich nicht festhalte.

Zu wenig zu schreiben: Wer nichts festhält, merkt nicht, dass er nichts festhalten kann.

Ein gewichtiger Unterschied:

Die Welt als einen Widerstand wahrnehmen, an dem man sich spürt und zu dem man ein Verhältnis hat, das stets neu auszuhandeln ist.

Die Welt als eine Quelle von Freuden und Gefahren wahrnehmen, zu denen man stets schon ein Verhältnis hat: suchen oder verstecken.

Tabus

Kurz vor Ende meiner Schulzeit war ich Teil eines Theaterprojekts. Wir verbrachten viel Zeit im Kunsttrakt der Schule, auch weit außerhalb der Unterrichtszeiten. Eines Tages hatte die neue Kunstlehrerin vergessen, ihren Unterrichtsraum abzuschließen. Zwei, drei aus unserer Gruppe haben in ihrer Schreibtischschublade eine Art Tagebuch gefunden. Darin: Reflexionen zum Unterricht, zu den Schülern, zu den unerfüllbaren Aufgaben des Lehrerseins, zum Wunsch, die Schule zu einem guten Ort für die SchülerInnen zu machen.

Für mich ist der Moment, als meine Freunde vom Gefühl, das zu lesen, erzählten, nie vergangen: Die Scham über das Öffnen des intimen Tagebuchs. Die Überforderung, Verwunderung und Hochschätzung darüber, dass es offenbar LehrerInnen gibt, die ernsthaft über uns nachdenken und die in ihrem tiefen Zweifeln und Grübeln wirklich an uns interessiert sind. Die Frage, ob es wohl noch mehr solche Menschen unter unseren LehrerInnen geben mochte.

Das Tagebuch wurde wieder in die Schreibtischschublade gesteckt. Niemand sollte sein kurzes Aufleuchten in unseren Köpfen bemerken können.

Rolle rückwärts.

Meine Posts hier sind eher ein Laboratorium. Das, wofür ich die Schreibkultur im Web vielleicht am Meisten schätze. Es ist wahrscheinlich nicht ohne Ironie zu verstehen, dass meine Beiträge für die Schulzeitung diese Haltung nicht für alle transportieren konnten – und dass sie gerade Medienkompetenz zum Thema hatten.

Ich habe zwei Rezensionen geschrieben, für die ich Kritik erwartet und gewünscht habe. Dafür waren sie gemacht. Aber ihre Wirkung wurde für manche LeserInnen vor allem durch meine Rolle als Lehrperson bestimmt. Dadurch dass meine Rolle für manche als die eines Vorbilds oder eines Repräsentanten der Schule bestimmt ist. Und klar: Dass ich meine Vorbildfunktion eher in Streitbarkeit sehe, im offenen Abwägen und Fragen, diese Wahrnehmung kann ich niemandem aufzwingen. Das ist ja auch eher ein Wunsch, ein Bild, ein Ideal.

Es fühlt sich pubertär an: An mich werden andere, neue Erwartungen gestellt, seit ich Lehrer bin. Ich dagegen sehe mein Lehrersein eher im Unterlaufen dieser Erwartungen. Darin, meinen SchülerInnen auf diese Weise Platz für Kritik zu schaffen. Ich will die Rolle erfüllen, indem ich sie verweigere.

Erst langsam verstehe ich, welche Art der Anstrengung das bedeutet. Auch weil es schwer ist, dabei ebenso KollegInnen und Eltern, deren Erwartungen gleichermaßen im Blick zu haben. Unklar, ob das überhaupt möglich ist. Auch weil ich nicht einfach sagen kann: „Das ist halt der Lehrplan. Das macht man halt so.“ Dadurch rücke ich als Person, als persönliche Meinung in den Vordergrund, anstatt eine Möglichkeit zu sein, streitbar zu sein. Meine Entscheidung wird mir zugeschrieben, man ist von mir enttäuscht – und nicht von meinen Gründen, Positionen.

Es ist sehr unangenehm, andere auf diese Art zu enttäuschen. Ich möchte niemanden verletzen; und nicht verletzt sein.

Auch das fühlt sich pubertär an. Rollenerwartungen. Rolle rückwärts. Zurück zum Anfang. Kein Anfang. Nur Anfänge.

In Watte

Beim Lesen eines Kommentars der F.A.Z. zum „WhatsApp-Urteil“ des Bad Hersfelder Amtsgericht:

Da wird Markus Backedahl damit zitiert, dass die Lösung des Problems mehr „Datenhöflichkeit“ sei – und ein Leser kommentiert, das Urteil sei doch angesichts der Realität der WhatsApp-Nutzer ziemlich „putzig“.

Wie oft wünschte ich mir diese Art der Diskussion zum Thema: Sachlich und nett. Klug und genau. Höflich und putzig.

Spaziergänge im Sitzen.

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Am Schreibtisch.

Schreiben ist ein Form des Nachdenkens. Durch das Nacheinander der Worte, Sätze, Paragrafen, durch die sichtbar werdenden Regeln der Grammatik, durch die scheinbare Klarheit des Textaufbaus in Ab/Sätzen bekommen Gedanken eine Art Zuwendung, die das Gespräch nicht bieten kann.

Schreiben ist allgegenwärtig. Offizielle Mails, Nettigkeiten per WhatsApp, Kommentare unter Schülerfragen und Schülertexte, Einkaufszettel, To-Do-Listen, Arbeitsblätter, Prüfungs-Gutachten, digitale Termin-Absprachen und Urlaubsgrüße sind nur ein Ausschnitt aus meinem typischen 2017er-Alltag. Vermutlich wurde bis auf die wenigen Ausnahmen der obsessiven Tagebuch-/ und BriefeschreiberInnen vergangener Jahrhunderte nie so viel geschrieben wie heute.

Wenn das Schreiben auch einsam beginnt, endet es doch oft in anderen Umgebungen. Wobei selbst das mit dem „enden“ wohl nicht mehr zutrifft: Wo soll ein Gedanke enden, wenn ihn jemand hört, liest, speichert und weitertragen, weiterformen kann? Sharing is caring – auch das ist eine Form der Zuwendung.

Für die Einsamkeiten des Schreibens muss man sich wohl mit größerer Konsequenz entscheiden als das zu anderen Zeiten der Fall gewesen sein mag. Meine Urlaubserfahrung: Der einzige Stift im Haus ist ein Bleistift, dessen Mine mangels Spitzer mit dem Messer freigelegt werden muss. Im selben Moment ein Gefühl von Manufactum-Romantik und die Genervtheit, dass ich die vollgemschierten Zettel daheim abtippen werde. Zumindest wenn ich weiter daran arbeiten möchte.

Ich erlebe das nicht mehr als einen Verlust. Mein Bewusstsein für den Wert von Geschriebenem steigt. Ebenso meine (Selbst-)Kritikfähigkeit. Ich bin mit derart vielen Arten von Texten konfrontiert, muss so oft die Tonlage, den Stil, die Wortwahl und den Anspruch wechseln, dass meine Wertschätzung für einen guten Text weiter und weiter steigt. Und das kann dann auch heißen: Einen WhatsApp-Chat so einfühlsam zu lesen, dass aus dem Zusammenspiel von Wortwahl, Emojis, Zeit-Angaben und Erinnerungen an andere Treffen und Gespräche ein Verständnis für den Anderen in den eigenen Nachrichten durchscheint.

Aber allein dass ich gerade dieses Beispiel wähle, diese Möglichkeit, einen guten Text zu schreiben hervorheben zu müssen meine, zeigt, wie sehr ich noch ein Kind der 90er-Jahre bin. Als es anfing, cool zu sein, sich einen Schreibmaschine oder eine umständliche Kleinbildkamera zu kaufen, um sich von deren digitalen Versionen und ihren Käufer-Cliquen abzugrenzen. Standesdünkel und Konservatismus der Alternativ-Kulturen.

Noch einmal zurück zur Romantik von Messer und Bleistift und Papier: Dieses Schreiben könnte einsam bleiben, meines bleiben. Eine Möglichkeit, ein anderes Schreiben zu finden, authentischer und weniger an den anderen interessiert, an deren Meinungen und deren Fortschreiben.

Vielleicht ist das aber der falsche Gedanke, das falsche, viel zu komplizierte Bild. Idealisiert, kondensiert aus all den Lobpreisungen angeblicher und echter Künstler-Einsamkeiten. Eher ist das Schreiben derzeit wie das Spazierengehen. Man kann sich einbilden, dass man dabei alleine ist. Aber nur so lange man nicht den Kopf hebt, um all die anderen zu sehen, die einen auch sehen könnten. Die schon vor einem im Park waren. Denen man gefolgt ist. Mit gesenktem Kopf, bis der Nacken schmerzte.

Sich er/schreiben

»Von Max Frisch stammt der Satz: „Wer nicht schreibt, weiß nicht einmal, wer er nicht ist.“ (…)

Seine Äußerung wird plausibel, wenn man sie von der Tätigkeit des Schreibens löst und verallgemeinert. Sie könnte dann lauten: Wer sich in dem, was er ist, nicht ausdrückt, verpaßt eine Möglichkeit zu erkennen, wer er ist. Die Idee wäre dann: Daß einer sich ausdrückt, ist nichts der Selbsterkenntnis Äußeres, kein bloßes Dekor, das man ohne Verlust auch unterdrücken könnte; nein, im Gegenteil, die Zeichen meines Ausdrucks sind ein wertvolles, vielleicht sogar unverzichtbares Mittel, mich im Stil meines Lebens, in meiner stilistischen Individualität, zu erkennen. Das paßt gut zu dem (…) Gedanken, daß Selbsterkenntnis nicht in einem versiegelten Innenraum möglich ist, sondern den Weg über die Außenwelt gehen muß, dieses Mal über die Zeichen, die ich in der Welt setze, und die Spuren, die ich darin hinterlasse. (…)

Es gibt keinen planvollen Ausdruck, keinen eigenen Stil, ohne Phantasie: ohne die Fähigkeit, sich verschiedene Möglichkeiten vorzustellen, das Tatsächliche zu variieren, in der Vorstellung Unmögliches möglich zu machen. Sich am eigenen Ausdruck zu erkennen, heißt deshalb immer auch: sich an der eigenen Phantasie zu erkennen. An dem, was ich schaffe und aus mir heraussetze, erkenne ich die Bewegung, den Rhythmus und die Drift meiner Phantasie, das Gravitationszentrum meiner Einbildungskraft.(…)

Das Schreiben einer erfundenen Geschichte, könnte man sagen, schafft Laborbedingungen, um auf einen Teil der unübersichtlichen Innenwelt mit dem Mittel der dramatischen Zuspitzung ein ungewöhnlich helles und klares Licht zu werfen. Und wenn man es so sieht, ist es nicht mehr paradox, wenn einer, um sich selbst zu erkennen, einen anderen, Fremden erfindet.«

aus: Peter Bieri. Wie wollen wir leben? München 2011. S.46 ff.