Den Ozean lesen.

(Rezension für die Schulzeitung „Blickpunkt“)

Anschließend an die Rezension zu Georg Milzners Buch über die „Digitale Hysterie“ stelle ich heute ein zweites Buch vor, das sich mit den Veränderungen beschäftigt, die man gerne als Auswirkungen neuer Technologien ausmacht. Dieses hat ein wesentlich konkreteres Thema als das von Milzner, nämlich den Wandel der Kulturtechnik des Lesens.

Mago
Wenn lesen bedeutet, Zeichen zu deuten – was  macht die Katze dann hier? (Foto: janetteenders.de)

Auch dieses Buch geht von der These aus, dass die allfällige Aufregung über die so genannten „neuen Medien“ über wirkliche Probleme hinwegtäuscht. Aber ähnlich wie Milzner nimmt auch Falschlehner die Sorgen seiner LeserInnen ernst, indem er möglichst genau hinschaut: Anstatt die Klagen über lesemüde Jugendliche zum „Sturm im Wasserglas“ kleinzureden, lädt sein Buch uns ein, das Thema „Lesen“ in seiner ganzen Fülle zu betrachten – mal mit dem kleinen Zeh in den großen Ozean hinein zu spüren…

Übungen in Offenheit
Gerhard Falschlehner ist Lehrer, Mediendidaktiker und dabei vor allem Experte für’s Lesen. Sein Buch ist ebenfalls für Einsteiger in aktuelle Diskussionen gedacht und bietet einen sehr guten Überblick dazu, was man derzeit über das Lesen bzw. Lesenlernen weiß. Es kreist dabei um den Gedanken des argentinischen Schriftstellers Alberto Manguel:

„Das Lesen von Buchstaben auf einer Seite ist nur eine ihrer Erscheinungsformen. Der Astronom liest am Himmel in den Sternen, die längst nicht mehr existieren (…); Jäger und Naturforscher lesen die Wildfährten im Wald; Kartenspieler lesen die Gesten und Mienen ihrer Partner, bevor sie die entscheidende Karte ziehen. Balletttänzer lesen die Notierungen des Choreographen, und die Zuschauer lesen dann die Figuren des Tanzes auf der Bühne. Teppichweber lesen die verschlungenen Muster eines gewebten Teppichs, Organisten lesen mehrere simultane Stimmen, um sie zu einem orchestralen Klang zusammenzuführen, Eltern lesen im Gesicht ihres Babys, um nach Anzeichen der Freude der Angst oder des Erstaunens zu suchen. (…) Hawaiische Fischer lesen die Meeresströmungen, indem sie die Hand ins Wasser halten; der Bauer liest am Himmel, welches Wetter zu erwarten ist, und alle teilen sie mit den Leser von Büchern die Fähigkeit, Zeichen zu erkennen und mit Bedeutung zu füllen.“

Daraus zieht Falschlehner zwei Schlüsse: Zum einen plädiert er für einen möglichst weiten Begriff davon, was Lesen ist. Bücher sind demnach nur eine Möglichkeit von vielen. Und das gilt insbesondere für eine Gegenwart, in der es vollends normal ist, verschiedenste Textformen mit Ton und Bild zu kombinieren. Zum anderen schärft er unseren Blick dafür, dass das Lesenlernen im schulischen Sinne oftmals sein Ziel verfehlt. Viele Kinder und Jugendliche verlieren einmal gelernte Fähigkeiten, weil ihnen vorgeschrieben wird, was „gutes“ und „schlechtes“ Lesen sei. Dass SchülerInnen komplizierteste Texte über die Familienstammbäume von Hobbits oder Pokémons verstehen und wiedergeben können, an schulischen Herausforderungen aber scheitern, ist da nur ein Indiz.

Wer ist jetzt der Analphabet? Und wenn ja, wie viele?
Spannend wird dieser Gedanke etwa, wenn man sich die Alphabetisierung der Gesellschaft anschaut. Nie konnten derart viele Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten lesen. Gemeint ist damit in den üblichen Untersuchungen: Sie können einzelne zusammenhängende Texte, die aus Buchstaben bestehen, entziffern und damit an Wissensprozessen und Meinungsaustausch teilnehmen. Als Analphabet gilt daher mitunter, wer dies nicht hinbekommt.

Doch was, wenn diese Art von Texten an Bedeutung verliert, der Wissens- und Meinungsaustausch aber nicht? – Ebendies ist allerorts zu beobachten. Die Texte, aus denen Menschen Weltwissen schöpfen, in denen sie kommunizieren und Gedanken festhalten, bestehen aktuell aus den verschiedensten Formen von Zeichen: Buchstaben, Hyperlinks, Hashtags, Abkürzungen, Emojis, Videos, Fotos, Gestiken, Mimiken, usf. Hinzu kommt eine Vielzahl an Sprechweisen, die nur von bestimmten Gruppen verstanden werden, die sich in bestimmten Zusammenhängen über bestimmte Inhalte austauschen: von der Wissenschaftssprache auf Wikipedia über Jugend-Slangs in Foren bis zum auf äußerste Prägnanz zugespitzten Idiom der Sozialen Medien.

Falschlehner spinnt nun Manguels Gedanken weiter, wenn er sich und uns fragt: Was sollen wir tun, mit all den Analphabeten, die diese Sprachen nicht verstehen? Wie können wir diese ungeheure Reichhaltigkeit an Ausdruck überhaupt genug wertschätzen und so tief und neugierig eintauchen wie in die Sprachen, von denen Manguel berichtet? Und vor allem: Welche Formen der Didaktik des Lesens brauchen wir heute, wenn wir merken, dass die Unterrichtsziele des 20ten Jahrhunderts schlichtweg einen großen Teil der Realität dessen verfehlen, was heute Kommunikation ist? Wer daran zweifelt, der beobachte sich und andere mal bei einer Internet-Recherche oder zeichne das eigene Kommunikationsverhalten auf. Filterblasen, Fake-News, Wissensgesellschaft, confirmation-bias – das waren einmal Themen der Theorie, jetzt bestimmen sie einen Alltag, den man höchstens ignorieren, nicht aber ändern kann.

Auf den folgenden Seiten durchmisst Falschlehner den enormen Raum des Lesens und verfolgt dabei ein ähnliches Projekt wie auch Georg Milzner: Er hilft dabei, aktuelle Alltagsbeobachtungen und Forschungsergebnisse einzuordnen, um ein enorm komplexes Phänomen erst einmal in seiner Größe ahnbar zu machen. Sicher ist nur: Das Lesen ändert sich, die Leser ändern sich.

Auf in den Ozean!
Das wiederum ist jedoch seit Beginn der Schrift-Kultur der Fall, die ebenso alt ist wie die Kritiker ihrer Erfindung. Etwa bei Platon (4tes Jahrhundert v. Chr.):

„[…] diese Erfindung [die Bücher] wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittelst fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie doch größtenteils unwissend sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden statt weise.“
(Platon, Phairdos)

Dass die Lehrlinge Griechenlands nur noch Bücher gelesen hätten und dies der Grund für das Ende der antiken Hochkultur wäre, ist nicht überliefert. Dass wir „unmittelbare“ Arten der Kommunikation für immer verloren hätten ebenso wenig. Grund für neuen Mut ist das allemal, denn der Reichtum dessen, was Sprache, was Ausdruck sein kann, lädt immer mehr Menschen dazu ein, daran teilzuhaben – mit ihren Anliegen, Wünschen und Möglichkeiten. Also: Auf in das Gewimmel ihres Ozeans, das zu lesen wir wohl immer wieder neu lernen müssen.
Gerhard Falschlehner: Die digitale Generation. Jugendliche lesen anders. Wien 2015. (224 Seiten)

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