Fantastik und Fiktionalität im Nibelungenlied

Als ich überlegte, die Epoche in diesem Jahr zu geben, hatte ich zwei Einstiege für meine Arbeit: Zum einen war mir klar, dass ich erschreckend wenig über das Mittelalter weiß – ich musste mich also recht viel in die Grundlagen zu Literatur und Kultur einlesen. Wesentlich mehr wusste ich aber zu der Art von Erzählung zu sagen, die das Nibelungenlied ausmacht: eine so starke wie tragische weibliche Rächerfigur, die man spätestens seit Tarantino wieder im kulturellen Gedächtnis hat; ein Superheld, ein Machtpolitiker, ein schwacher König, die mit größtmöglicher Theatralik die Bedeutung von Macht, Reichtum und Gewalt vor sich hertragen und die schließlich an Zwängen ihrer Rollen zugrunde gehen. Von letzterem erzählt ein großer Teil der fantastischen Literatur zwischen dem Herrn der Ringe und Batman.

Fantastik
Der Teil meiner Epoche, der sich mit Literatur im engeren Sinne beschäftigt, hat dieses Fantastische in den Fokus genommen. Mein Ausgangspunkt: Ich vermute, alle SchülerInnen haben irgendwelche fantastische Geschichten, die sie geprägt haben/die sie echt mögen. Mein Ziel: Darüber nachdenken, was diese Erzählungen denn nun wie erzählen. Was „machen“ sie mit der Realität? Welche Funktion haben sie für ihre Leser? Und in der Gesellschaft? Was kann man an ihnen besser verstehen als an anderen Arten von Literatur, die den Ruf haben, „realistischer“ zu sein?

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„Als Kind brauchte ich solche Figuren“ beginnt der Klappentext. Als Lehrer sollte man sie weiterhin ernstnehmen, denke ich. Das Buch ist „Superhelden“ von Dietmar Dath, erschienen in der 100-Seiten-Reihe von Reclam.

Nachdem ich das für mich geordnet hatte, fand ich Dietmar Daths „Superhelden“-Einführung und war extrem dankbar für den Band. Froh war ich, dass er mich in vielen Punkten bestärkte – froher noch, dass er mir Grundlagen, Fluchtlinien und historische Zusammenhänge aufzeigte. Gerade was die Fantastik angeht, ist man in Deutschland ja oft sehr prüde, tut solche Literatur meist schnell als Schmuddelkram ab (höchstens die Romantik lässt man vielleicht noch als „echte Literatur“ gelten).

Dath macht einen weiten Fantastik-Begriff auf. Für ihn ist „Fantastik schlechthin die Gesamtheit aller künstlerischen Techniken, die ihre jeweiligen Darstellungsmittel offensiv und konsequent dem Hauptzweck der Aufhebung des Unglaubens unterordnen.“ (Dath, „Superhelden“. S. 38)

Kurzum: Im Nibelungenlied wird ein großer Teil der Erzählung und der erzählerischen Techniken dafür eingesetzt, den Unglauben seiner Leserschaft aufzuheben, dass die Gewalt, der Reichtum aber auch die verfeinerten höfischen Sitten seiner Figuren gar nicht möglich sind. Das durchwegs adelige Personal hat einen übermenschlichen Status. Und den kann man sich (siehe gestern) aus dem Weltbild und der Gesellschaftsform des Mittelalters erklären – aber eben auch aus der Vorstellungswelt, die daraus in Erzählungen konstruiert wird:

Neben den realen Orten, den realistischen höfischen Ritualen, den historischen Figuren usw. stehen fantastische Orte, Charaktere und Handlungen, ohne dass der Text sie kategorisch trennte. Das schließt zum einen an Einsichten an, die wir mit der Ebstorfer Karte schon hatten – auf ihr sind z.B. das Paradies, die Menschenfresser und Braunschweig gleichermaßen eingetragen. Und das schließt zum anderen an alle fantastischen Erzählungen von Horror über Science-Fiction bis zu Ritter-und-Drachen-Fantasy und Batman-Heldentum an, die zu den größten Faszinationen der Kunst gehören.

Ein/ordnen
Ein Teil unserer Arbeit ist es mithin, zu verstehen, was solche Kunst kann. Und warum man sie mit guten Gründen (und gegen schlechte) sehr ernst nehmen sollte. Dazu noch einmal Dietmar Dath:

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Noch einmal Dietmar Dath – hier ein Zitat von Seite 9 seines „Superhelden“-Bandes.

Eine wichtige Unterrichts-Frage ist daher auch, ob die Leser/Hörer im Mittelalter wohl dümmer als wir waren: Haben die das geglaubt, was da über Siegfried und Hagen steht, die 1000e Gegner problemlos in einem Blutbad versinken lassen?

Zum einen machen wir uns mit diesem Gedanken klar, dass zur Realität eben auch Perspektiven, Gefühle, Wünsche, Begierden gehören. Und dass diese Teile der Realität  auch im Zentrum eines Textes/Filmes stehen dürfen. Wenn man sich nur an den Fakten, Naturgesetzen, Äußerlichkeiten festhielte (was ja gemeinhin als „realistisch“ empfunden wird), fehlte doch auch etwas – und würde doch auch ein Teil der Welt übermäßig betont. Das Nibelungenlied (mithin alle Spielarten der Fantastik) ist also nicht per se „unrealistisch“, „kindisch“ oder „dumm“. Siegfrieds Blutbäder stehen auch für das Gefühl ein, was einen Helden ausmacht – wie unverwundbar man sich an seinem besten Tag fühlt.

Zum anderen überlegen wir, welche Funktionen solches Erzählen hat. Beim Nibelungenlied etwa, dass es sich an eine bestimmte Leser-/Hörerschaft einer bestimmten Zeit richtet. Wer wird hier also wie dargestellt – und an wen richtet sich diese Erzählung? Sollen die Eliten idealisiert werden? Soll ihnen ein Spiegel vorgehalten werden? Soll man sich wünschen, ein Held zu sein? Und wenn ja, wer ist dann „man“ und welche Art von „Held“ ist denn wirklich wünschenswert? Warum stirbt die alte Version „Held“ am Ende des ersten Teils? Warum stirbt die neue Version auch?

Zum Beispiel: Frauenfiguren
Viele Figuren bieten sich an, um diese Spannungen zu vertiefen. Etwa Prünhilt, die von Siegfried beispielhaft brutal dafür abgestraft wird, dass sie anderen Frauen ein schlechtes Vorbild sein könnte, wenn sie sich gegen den Beischlaf mit Gunter wehren würde. Eine üble Vergewaltigungsszene, die im Text fast schon als Slapstick daherkommt und die moralisch abgesichert wird, dadurch dass es gerade Siegfried, der strahlende Held ist, der hier zum Vergewaltiger und Vorbild aller Männer gemacht wird. Die Botschaft des Textes ist klar: Frauen wie Prünhilt werden mit allen Mitteln (und mit Recht) in die Schranken verwiesen.

Ähnlich auch Kriemhild, mit der der Text beginnt, die für uns als vielschichtige, gebrochene Figur interessant wird, die für ihre Treue und Liebe aber zuletzt brutalst ermordet wird – nicht zuletzt weil sie als Frau nicht dazu berechtigt ist, den Tod tapferer und ehrenhafter Ritter wie Hagen zu fordern.

Das kann man zum einen aus dem Ehr-Begriff des Mittelalters erklären, zum anderen aus der Idee von Minne als idealisierter Liebe, zuletzt aus der Geschlechterordnung, wie sie der Text erzählt. Es gehört eben zur Wirklichkeit des Textes, dass diese Frauenfiguren zwar stark und selbstbewusst erscheinen – dafür aber abgestraft werden. LeserInnen konnten und sollten daraus etwas lernen.

Auch hier erkennen wir idealisierte Figuren, an denen bestimmte Eigenschaften übermäßig betont werden: Sie erscheinen uns in ihrem Verhalten und ihren Fähigkeiten unrealistisch, fantastisch. Prünhilt ist eine Amazone, die ihre Superkräfte erst durch die Vergewaltigung verliert. Kriemhilt ist eine auserwählte und übermenschlich schöne Prinzessin mit seherischen Fähigkeiten, die 13 Jahre lang an einem Racheplan arbeitet. Dennoch haben sie einen Bezug zur Realität des Mittelalters: Sie vermitteln reale Gefühle, Werte, Erfahrungen. Sie vermitteln aber auch ein Bild davon, was/wie Frauen und Männer sein sollten – und was/wie nicht.

Das zu klären und dann zwischen unserer Lesweise als Menschen des 21ten Jahrhunderts und der Perspektive des Mittelalters zu unterscheiden, hilft, die „Fremdheit“ des Textes ein bisschen besser zu verstehen. Warum wir Kriemhilts Liebe vielleicht gut nachvollziehen können, sie im Mittelalter aber als beispielhaft schreckliche Figur galt. Warum dieser Text eine Welt erzählt, die nicht die „Realität“ ist, aber dennoch etwas sehr reales vorbringt.

Ausschnitt: ein paar Arbeitsweisen
Neben einer Charakterisierung der Figuren und einer Diskussion des Handlungsverlaufs, der etwa die Vergewaltigungsszene umgibt, habe ich z.B. mit Materialien zum Minne-Begriff gearbeitet. Die SchülerInnen sollten u.A. eine eigene (besser verständliche) Version des Wikipedia-Artikels herstellen und mit Beispielen aus dem Nibelungenlied unterfüttern.

In Gruppenarbeiten konnte man sich für Themen (Weiblichkeit, Männlichkeit, Reisen, Liebe, etc.) entscheiden und dazu eine Frage bearbeiten: Weiblichkeit heute, Weiblichkeit im Nibelungenlied, Experteninterview Weiblichkeit, etc.

Eine Klausur-Variante bestand darin, dass jede/r sich eine der Figuren Siegfried, Hagen, Kriemhild aussuchen konnte – und diskutieren sollte, warum diese als Held/in taugte und taugt. Argumente dafür/dagegen sollten aus dem Text und unserer Arbeit zum Mittelalter genommen werden.

Literatur und Fremdheit: Das Nibelungenlied

Gegenüber dem ‚Nibelungenlied‘ als Unterrichtsstoff hatte ich lange Vorbehalte: zu düster, zu versponnen, zu fern vom Jetzt. Interessant fand ich es eher aus literaturgeschichtlichen Gründen, die in der 10ten Klasse nur bedingt auftauchen können. Die Verbindung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die Frauenfiguren, die Frage nach den Heldentugenden, die politische Funktion von Literatur für die Ständegesellschaft. SchülerInnen ist sein Wert schwer zu vermitteln.

Meine Erfahrung aus den Praktika war dann auch die, dass Schüler halt zum Lesen gezwungen werden – schlimmstenfalls indem der komplette Text entweder im Unterricht vorgelesen oder nacherzählt wird. Das finde ich in der Oberstufe ziemlich streitbar. Und ob das ‚Nibelungenlied‘ (oder irgendein Text) nun so wichtig ist, dass man ihn um jeden Preis mal gehört haben muss, ist auch sehr fraglich.

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Einige Teile des Puzzles `Nibelungenlied‘.

Mein aktueller Ausweg: Das ‚Nibelungenlied‘ ist fast allen seinen LeserInnen zunächst mal enorm fremd. Das Konzept der Fremdheit nehme ich als Leitmotiv meiner Epoche und die Klasse arbeitet an verschiedenen Zugängen/Facetten davon: historischen, stilistischen, weltanschaulichen, sozialen.

Wege finden
Bei meiner ersten selbst gestalteten Nibelungen-Epoche habe ich einen Mittelweg ausprobiert: Die SchülerInnen lesen den Text bis auf einige für den Unterricht relevante Passagen zuhause. Dazu bekommen sie den Arbeitsauftrag, selbstständig Zusammenfassungen und ein Figurendiagramm zu erstellen. Das kommentiere ich mehrmals: Ich werde beides nicht im eigentlichen Sinne korrigieren. Ich bestehe nur darauf, dass es gemacht wird – und ich setze ein vertieftes Wissen über Figuren und Handlung voraus, um die Klausur und das Unterrichtsgespräch gut hinzukriegen. Hinzu kommt, dass jede/r eigene Techniken entwickeln muss. Manche merken sich Inhalte so gut, dass ihnen wenige Stichworte an Notizen reichen – andere brauchen eindeutigere Aufschriften. Das muss man herausfinden, ausprobieren.

Im Unterricht behandle ich dann vor allem die Vogelperspektive auf den Text. Das heißt zum einen literatur/geschichtliche Kontexte, zum anderen formale Konzepte.

Literatur und Geschichte
Ein ganz gutes Beispiel für Kontexte ist vielleicht mein Einstieg: Die ersten beiden Sitzungen arbeiteten wir daran, ein Bild davon zu bekommen, was das Mittelalter für uns fremd macht – und welche Konzepte damit verbunden sind. Ich gebe dazu die „Ebstorfer Weltkarte“ nebst einiger Inschriften aus. Die SchülerInnen erarbeiten in Gruppen mehrere Fragen dazu, ohne dass dem große Diskussionen über Basiswissen vorangegangen wären (vorher haben wir nur einen Common Sense darüber hergestellt, wann und wo das Mittelalter einzuordnen ist).

Die Ebstorfer Weltkarte. (Quelle: Wikipedia)

Die wichtigsten Fragen sind vielleicht: Was verbindet/unterscheidet diese Karte von Karten, die Du kennst? Wer konnte diese Karte lesen – und was musste er/sie dafür wissen? Wer konnte sich mit dieser Karte wo orientieren?

Die Karte findet man in einer exzellenten Online-Version auf den Seiten der Universität Lüneburg. Wer das als Material mal ausprobieren will, dem empfehle ich sehr, die Schüler die Karte am Rechner erkunden zu lassen.

In der anschließenden Diskussion ist es mir vor allem wichtig, dass die SchülerInnen verstehen, dass „reale“ Orte und „fiktive“ nicht kategorisch getrennt werden, dass mittelalterliches Wissen enorm vernetzt ist, dass LeserInnen offenbar zumindest im Deuten von Bildern sehr gebildet sein mussten. Zudem fiel uns auf, dass unsere Deutungen sehr schnell sehr komplex wurden – wir konnten nicht mehr von den leichtgläuben, dummen Menschen im Mittelalter reden, sondern hatten zumindest einen ersten Eindruck von einer anderen Art von Logik und Welterfahrung. Allein um den Weg von Braunschweig ins Paradies zu erklären (und was das mit dem Christus-Bild zu tun hat) braucht es schon einiges an Anstrengung.

Diese Eindrücke brauchen wir dann, um inhaltlich weiterzuarbeiten. Dazu bald mehr.

 

Bücher und Berge

Gerade lese ich die „Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters“ von Karl Brunner. Darin heißt es zum ‚Nibelungenlied‘:

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Immer wieder fällt mir auf, wie die Hochschätzung des Romans und der Leistung, (angeblich) alleine einen großen Text zu schreiben bzw. zu lesen, etwas ziemlich gewolltes an sich hat. Im Sinne von: Produzenten und Konsumenten sollten möglichst viel und möglichst allein leiden müssen, damit das größtmögliche Kunstwerk entstehen bzw. gewertschätzt werden kann. Auch ein Erbe des Bildungsbürgertums.

Abgeschlossenheit des Werkes, der Schreibstube, des Lesezimmers, des Weltbildes.

Passend dazu, die gern gebrauchte Metapher eines Berges, den man zu erklimmen habe, wenn man etwas schwieriges verstehen/etwas großes schaffen möchte. Passend, weil das Besteigen eines Berges ähnlich sinnlos für die Mitmenschen und ähnlich sinnvoll für das Ego des Besteigers ist.

Wichtiger: Die Sherpas mitdenken. Die Schreiber der Ratgeber zur Bergesteigerei. Die Gespräche mit anderen Alpinisten. Den Austausch mit Anwohnern. Die gesteigerte Aufmerksamkeit für Wind und Wetter. Die Frage, um was sonst als nur um das Gipfelfoto es gehen könnte. Wer den Berg gebaut hat. Wer den Weg gezeichnet hat. Welche Wege es gibt. Welche es geben könnte. Wer sich den ganzen Quatsch mit der Bergsteigerei überhaupt ausgedacht hat. Ob man nach der Antwort immer noch bergsteigen möchte.

Den Ozean lesen.

(Rezension für die Schulzeitung „Blickpunkt“)

Anschließend an die Rezension zu Georg Milzners Buch über die „Digitale Hysterie“ stelle ich heute ein zweites Buch vor, das sich mit den Veränderungen beschäftigt, die man gerne als Auswirkungen neuer Technologien ausmacht. Dieses hat ein wesentlich konkreteres Thema als das von Milzner, nämlich den Wandel der Kulturtechnik des Lesens.

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Wenn lesen bedeutet, Zeichen zu deuten – was  macht die Katze dann hier? (Foto: janetteenders.de)

Auch dieses Buch geht von der These aus, dass die allfällige Aufregung über die so genannten „neuen Medien“ über wirkliche Probleme hinwegtäuscht. Aber ähnlich wie Milzner nimmt auch Falschlehner die Sorgen seiner LeserInnen ernst, indem er möglichst genau hinschaut: Anstatt die Klagen über lesemüde Jugendliche zum „Sturm im Wasserglas“ kleinzureden, lädt sein Buch uns ein, das Thema „Lesen“ in seiner ganzen Fülle zu betrachten – mal mit dem kleinen Zeh in den großen Ozean hinein zu spüren…

Übungen in Offenheit
Gerhard Falschlehner ist Lehrer, Mediendidaktiker und dabei vor allem Experte für’s Lesen. Sein Buch ist ebenfalls für Einsteiger in aktuelle Diskussionen gedacht und bietet einen sehr guten Überblick dazu, was man derzeit über das Lesen bzw. Lesenlernen weiß. Es kreist dabei um den Gedanken des argentinischen Schriftstellers Alberto Manguel:

„Das Lesen von Buchstaben auf einer Seite ist nur eine ihrer Erscheinungsformen. Der Astronom liest am Himmel in den Sternen, die längst nicht mehr existieren (…); Jäger und Naturforscher lesen die Wildfährten im Wald; Kartenspieler lesen die Gesten und Mienen ihrer Partner, bevor sie die entscheidende Karte ziehen. Balletttänzer lesen die Notierungen des Choreographen, und die Zuschauer lesen dann die Figuren des Tanzes auf der Bühne. Teppichweber lesen die verschlungenen Muster eines gewebten Teppichs, Organisten lesen mehrere simultane Stimmen, um sie zu einem orchestralen Klang zusammenzuführen, Eltern lesen im Gesicht ihres Babys, um nach Anzeichen der Freude der Angst oder des Erstaunens zu suchen. (…) Hawaiische Fischer lesen die Meeresströmungen, indem sie die Hand ins Wasser halten; der Bauer liest am Himmel, welches Wetter zu erwarten ist, und alle teilen sie mit den Leser von Büchern die Fähigkeit, Zeichen zu erkennen und mit Bedeutung zu füllen.“

Daraus zieht Falschlehner zwei Schlüsse: Zum einen plädiert er für einen möglichst weiten Begriff davon, was Lesen ist. Bücher sind demnach nur eine Möglichkeit von vielen. Und das gilt insbesondere für eine Gegenwart, in der es vollends normal ist, verschiedenste Textformen mit Ton und Bild zu kombinieren. Zum anderen schärft er unseren Blick dafür, dass das Lesenlernen im schulischen Sinne oftmals sein Ziel verfehlt. Viele Kinder und Jugendliche verlieren einmal gelernte Fähigkeiten, weil ihnen vorgeschrieben wird, was „gutes“ und „schlechtes“ Lesen sei. Dass SchülerInnen komplizierteste Texte über die Familienstammbäume von Hobbits oder Pokémons verstehen und wiedergeben können, an schulischen Herausforderungen aber scheitern, ist da nur ein Indiz.

Wer ist jetzt der Analphabet? Und wenn ja, wie viele?
Spannend wird dieser Gedanke etwa, wenn man sich die Alphabetisierung der Gesellschaft anschaut. Nie konnten derart viele Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten lesen. Gemeint ist damit in den üblichen Untersuchungen: Sie können einzelne zusammenhängende Texte, die aus Buchstaben bestehen, entziffern und damit an Wissensprozessen und Meinungsaustausch teilnehmen. Als Analphabet gilt daher mitunter, wer dies nicht hinbekommt.

Doch was, wenn diese Art von Texten an Bedeutung verliert, der Wissens- und Meinungsaustausch aber nicht? – Ebendies ist allerorts zu beobachten. Die Texte, aus denen Menschen Weltwissen schöpfen, in denen sie kommunizieren und Gedanken festhalten, bestehen aktuell aus den verschiedensten Formen von Zeichen: Buchstaben, Hyperlinks, Hashtags, Abkürzungen, Emojis, Videos, Fotos, Gestiken, Mimiken, usf. Hinzu kommt eine Vielzahl an Sprechweisen, die nur von bestimmten Gruppen verstanden werden, die sich in bestimmten Zusammenhängen über bestimmte Inhalte austauschen: von der Wissenschaftssprache auf Wikipedia über Jugend-Slangs in Foren bis zum auf äußerste Prägnanz zugespitzten Idiom der Sozialen Medien.

Falschlehner spinnt nun Manguels Gedanken weiter, wenn er sich und uns fragt: Was sollen wir tun, mit all den Analphabeten, die diese Sprachen nicht verstehen? Wie können wir diese ungeheure Reichhaltigkeit an Ausdruck überhaupt genug wertschätzen und so tief und neugierig eintauchen wie in die Sprachen, von denen Manguel berichtet? Und vor allem: Welche Formen der Didaktik des Lesens brauchen wir heute, wenn wir merken, dass die Unterrichtsziele des 20ten Jahrhunderts schlichtweg einen großen Teil der Realität dessen verfehlen, was heute Kommunikation ist? Wer daran zweifelt, der beobachte sich und andere mal bei einer Internet-Recherche oder zeichne das eigene Kommunikationsverhalten auf. Filterblasen, Fake-News, Wissensgesellschaft, confirmation-bias – das waren einmal Themen der Theorie, jetzt bestimmen sie einen Alltag, den man höchstens ignorieren, nicht aber ändern kann.

Auf den folgenden Seiten durchmisst Falschlehner den enormen Raum des Lesens und verfolgt dabei ein ähnliches Projekt wie auch Georg Milzner: Er hilft dabei, aktuelle Alltagsbeobachtungen und Forschungsergebnisse einzuordnen, um ein enorm komplexes Phänomen erst einmal in seiner Größe ahnbar zu machen. Sicher ist nur: Das Lesen ändert sich, die Leser ändern sich.

Auf in den Ozean!
Das wiederum ist jedoch seit Beginn der Schrift-Kultur der Fall, die ebenso alt ist wie die Kritiker ihrer Erfindung. Etwa bei Platon (4tes Jahrhundert v. Chr.):

„[…] diese Erfindung [die Bücher] wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittelst fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie doch größtenteils unwissend sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden statt weise.“
(Platon, Phairdos)

Dass die Lehrlinge Griechenlands nur noch Bücher gelesen hätten und dies der Grund für das Ende der antiken Hochkultur wäre, ist nicht überliefert. Dass wir „unmittelbare“ Arten der Kommunikation für immer verloren hätten ebenso wenig. Grund für neuen Mut ist das allemal, denn der Reichtum dessen, was Sprache, was Ausdruck sein kann, lädt immer mehr Menschen dazu ein, daran teilzuhaben – mit ihren Anliegen, Wünschen und Möglichkeiten. Also: Auf in das Gewimmel ihres Ozeans, das zu lesen wir wohl immer wieder neu lernen müssen.
Gerhard Falschlehner: Die digitale Generation. Jugendliche lesen anders. Wien 2015. (224 Seiten)

Hochmut und Hochliteratur: Die Leser, die wir riefen.

Ein großer Teil meiner Vermittlungsarbeit, wenn ich mit KollegInnen aus anderen Fächern aber auch mit Eltern und SchülerInnen spreche, ist es, zu erklären, wie ich mich für Unterrichts-Themen entscheide. Das lässt sich meist herunterbrechen auf die Frage, warum sich Inhalte und Methoden ändern: Ist „der Goethe“ jetzt auf einmal schlecht? Können „die Kinder“ denn heutzutage keine guten Bücher mehr verstehen? Machen „die Lehrer“ es sich zu einfach, laufen sie jedem Trend nach?

Meine beiden größten Entscheidungshilfen, um Lektüre-Möglichkeiten einzuordnen:

  1. Wie kann man den Text lesen? Welche Fähigkeiten und Lese-Haltungen spricht er an?
  2. Wen spricht dieser Text an? Welche Lese-Perspektiven bietet er, welche LeserInnen schließt er aus, welche Vor/Urteile begünstigt er?

Damit stelle ich mir auch die Frage, welche LeserInnen mein Unterricht begünstigt – und welche er ausschließt.

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Leser und Kanon: Wer hält hier wen? (Foto: Andreas Praefcke, Quelle: Wikimedia Commons)

 

Felder der Kritik
Einen hilfreichen Denk-Anlass hat mir letzte Woche die Bloggerin Katharina Herrmann geliefert: Anhand von Pierre Bourdieus Feldtheorie und dessen Anwendung auf das Feld der Literatur skizziert sie, wie wir dazu kommen, bestimmte Praktiken des Lesens akzeptabel zu finden – oder eben nicht. Sie weist damit auch darauf  hin, dass Begründungen dafür, warum manche Lese-Neigungen nicht geschätzt werden, oftmals auf tradierten sozialen und geschlechterspezifischen Vorurteilen basieren.

Zugespitzt: Das den weniger Gebildeten und den Frauen zugeschriebene emotionale und massenhafte Konsumieren von Texten wird meist weniger geschätzt als das männlich codierte genaue und vertiefende Arbeiten mit den dazu passenden schwierigen Büchern. Hinzu kommt freilich noch die Hierarchie der Medien, an deren Spitze Bücher zu stehen haben.

Ein Argument, das dann schnell zur Hand ist: Manchmal müsse man sich zum „Guten“, zum „Schönen“, zum „Tieferen“ eben erst wagen – manchmal gar gezwungen werden. Aber damit ist das Problem nicht gelöst, nur verschoben. Wer entscheidet denn, was tief ist – und ob diese „Tiefe“ auch für jede/n die erwünschte Wirkung beim Lesen zeitigt?

Privilegien
Ein blinder Fleck des Schulunterrichts, insbesondere an Waldorfschulen, ist das von Bourdieu beschriebene Klassendenken, welches jedem Kanon innewohnt. Auch dem des Faches „Deutsch“: Was zum Teil des Kanons der hochgeschätzten Texte wird, bestimmen Gruppen, deren Mitglieder schon viel an sozialer Macht angehäuft haben – und das tun sie im Kontext einer Fachgeschichte, die aus der Bildungselite des 19ten Jahrunderts mit all ihren Ab/Neigungen erwachsen ist.

Da tut es kaum Wunder, dass sowohl die kanonischen Texte an Waldorfschulen als auch etwa die staatlichen Abitur-Lektüren von grübelnden, privilegierten, weißen Männern handeln und anders gestaltete Figuren oftmals nur zum Kontrastieren der Protagonisten-Probleme dienen dürfen. Oder die gesellschaftliche Norm wird zum Ziel von Handlung und Hauptfigur, wie etwa im Fall des Parzival.

Unser Literaturunterricht wird jedoch mit dem Argument, die Schüler an „großen Werken wachsen“ zu lassen, stark an derartigen Kanones ausgerichtet. Mithin wird oft gesehen, aber selten ausgesprochen: Der Humanismus, aus dem dieser Kanon erwachsen ist, ist freilich auch einer der Privilegierten, durch den wir unsere Schüler für ebensolche Zusammenhänge anschlussfähig machen. Humanismus ist dann aber nicht mehr nur eine Haltung gegenüber der Welt, sondern auch der Stolz auf die eigene Lesebiographie und deren Tradition. Er ist dann im Wortsinne ‚konservativ‘.

Hochs und Tiefs
Herrmanns Text hält dieser Tradition ein Lesen entgegen, das Vergnügen verspricht und andere Sparten von Medien, Inhalten und Erzählweisen bedient als die sogenannte Hochliteratur. Sie weist damit auf die Einsicht der Kulturwissenschaften hin, dass die Idee der „Tiefe“ eines Textes meist nur recht einseitig definiert wird: Tief ist, was einer bestimmten Vorstellung von Nachdenken/Philosophieren entspricht.

Bestimmten Gattungen von Texten wird zudem oft gar jede Möglichkeit von „Tiefe“ abgesprochen: Weil sie bestimmte Personengruppen ansprechen (etwa Jugendliche, Frauen), weil sie bestimmte Themen haben (etwa Sexualität, wirres Zeug), weil sie bestimmte Figuren und Orte erzählen (etwa Zauberer, Fantasiewelten, Science Fiction), weil sie bestimmte Formen haben (etwa Comics, Videos, alles-mit-Internet) usf.

Im Zuge dessen weist sie darauf hin, dass dieser Art der Teilung von Hoch- und Trivialliteratur bzw. einer Hierarchie der Medien traditionell ein Geschlechter-Bias innewohnt:

Männer lesen anders als Frauen. Frauen lesen anders als Männer. Big deal. Aus Konstruktivismus und von der Rezeptionsästhetik wissen wir: Jeder Mensch liest ein Buch auf seine eigene Art, abhängig von Sozialisation, Vorwissen etc. Männer und Frauen werden geschlechtstypisch unterschiedlich sozialisiert. Sie machen unterschiedliche Lebenserfahrungen. Natürlich lesen sie unterschiedlich. Aber: Obwohl Frauen die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, obwohl „weibliches Lesen“ als kulturelle Praxis nach wie vor da ist und vermutlich häufiger auftritt als das „männliche Lesen“, ist es nicht so viel wert wie das informationsorientierte, sachliche Lesen.

(Katharina Herrmann – Zur Kritik des normierten Lesens.)

Das Argument kann man, wie oben beschrieben, ebenso über die Kategorie ‚Klasse‘ laufen lassen. Beides hilft, es ganz pragmatisch an den Unterricht und seine TeilhaberInnen zu binden: Die Schranke „Hochliteratur“ filtert eine ganze Reihe an Texten und Medien aus dem Kanon – und mit ihnen die Interessen und die Lebenswirklichkeiten einer großen Menge an LeserInnen. Mit der „Tiefe“ der Texte, also ihrem Anspruch an das Unterrichtsgeschehen, hat das nicht zwingend etwas zu tun.

Ostereier
Zudem stellt sich da für mich erneut die Frage, ob nicht jede Form von Literatur, oder besser: von Text anspruchsvoll gelesen werden kann. Ich denke, Literatur-Unterricht sollte nicht zum Ostereier-Suchen nach tiefen Gedanken kluger AutorInnen verkommen. Mein Wunsch wäre es eher, dass meine SchülerInnen sich jeglichen Texten, denen sie begegnen, neugierig, interessiert, selbstbewusst nähern können. Wenn Unterricht soetwas wie „Kompetenzen“ oder eine Art Selbstbewusstsein schulen bzw. stützen soll, dann wäre das doch ernstzunehmen.

Hilfreich ist dafür die Perspektive der Kritik. Stefan Mesch fügt dem Artikel von Katharina Herrmann eine Reihe sinnvoller Ansatzpunkte zur Formulierung von Kritik und zur Schärfung der Leserperspektive hinzu. Diese können m.E. helfen, den Dualismus Hoch-/Trivialliteratur (nicht nur) in der Schule aufzulösen. Zumindest, wenn man eher daran interessiert ist, gute (also im besten Sinne selbst-bewusste) LeserInnen zu bilden – anstatt von solchen, die nur Meinungen reproduzieren:

Als Kritiker bin ich schnell gelangweilt von Büchern, Serien, Filmen, Comics, Erzählwelten, in denen…

1 – Figuren sich kaum entwickeln oder ändern; am Anfang schon absehbar ist, wie die Geschichte endet; oder jeder Teil, jede Episode nach dem selben Muster erzählt ist (z.B. “Monk”).

2 – Nebenfiguren so eindimensional bleiben, dass ich bei Frauen denke “Wow: Sexismus?” und bei Figuren of Color: “Wow: Rassismus?” (z.B. “Two Broke Girls”).

3 – EIN Geschlecht angesprochen oder als Zielgruppe gedacht wird, und alle Figuren des anderen Geschlechts am Rand bleiben (z.B. “Herr der Ringe”).

4 – Die Hauptfigur NUR triumphiert und wir eingeladen werden, uns an ihrer Seite dem Rest der Welt überlegen zu fühlen (z.B. James Bond, Batman).

5 – Sprache so egal ist, dass mich Klischees wie “rabenschwarze Nacht” und “ihr Herz blieb fast stehen” ablenken (z.B. die meisten deutschsprachigen Krimis).

6 – Figuren Berufe, Krankheiten oder Expertengebiete haben, die niemand richtig recherchiert hat (z.B. “Marienhof”).

7 – Alle Figuren außer den Helden Trottel, Abschaum, Monster bleiben (z.B. “Fear the Walking Dead”? Ich schwanke noch).

8 – Eine Grundstimmung ohne Höhen und Tiefen “zum Abschalten” einlädt: Statt Irritationen und Details, die man im Hinterkopf behalten sollte, bleibt alles ein harmloser, gemächlicher Brei (z.B. “Sturm der Liebe”).

9 – Gegner keine Argumente haben, nichts dazu lernen, oft nur für das “Falsche”, “Perverse” Andere stehen, über dessen Bestrafung wir uns freuen sollen (z.B. Märchen, “Law & Order”, Kinder- und viele Disney-Bösewichte).

10 – Dinge erzählt werden, die schon lange erzählt werden, auf eine Art und Weise, die niemanden stören, erschrecken, herausfordern soll (z.B. “heitere” Unterhaltungsromane).

(Stefan Mesch – Schlechte Blogs, Schlechte Bücher, Schlechte Maßstäbe: Wo wird mir Literatur… zu platt?)

Ähnliches können Tools wie etwa der bekannte Bechdel-Test leisten.

Offenheiten
Dieses Nachdenken ist freilich einerseits durch eine Erweiterung des Kanons bzw. Text-Begriffs anzureichern, wenn man den eigenen Unterricht als mit der Lebenswelt, der Gegenwart verbunden sehen mag. Andererseits ist ein Lesen des Kanons freilich eine sinnvolle Art der Auseinandersetzung mit Tradition bzw. Geschichte. Diese aber rein zustimmend oder gar ganz ohne Reflexion von Wertungen und deren Kontexten in den Unterricht zu bringen, ist sowohl gegenüber den SchülerInnen als auch gegenüber den gelesenen Texten recht respektlos.

Geboren im 19ten Jahrhundert…

Wenn ich gerade eine Stunde aufbringen kann, lese ich ein Kapitel aus Jost Schneiders „Sozialgeschichte des Lesens“. Aktuell bin ich im „bürgerlichen Zeitalter“ unterwegs und extrem froh über klare und gut argumentierte Zusammenfassungen zur Geschichte des Literaturbegriffs, sowie eine sehr sachliche aber eindeutige Kritik daran, wie eng dieser an die Vorstellungen einer winzigen intellektuellen Elite des 19ten Jahrhunderts geknüpft ist. (Zu den Tastemakern des Bildungsbürgertums zählte nur ca. 1 Prozent der Bevölkerung.)

Manchmal fühle ich mich beim Lesen selber ertappt, manchmal ärgere ich mich über die Lehrpläne bis hin zum Abitur („Naturlyrik von Sturm&Drang bis in die Gegenwart“), manchmal wundere ich mich ganz allgemein, dass das nicht zum Basiswissen des Fachs gehört.

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aus: Jost Schneider, Sozialgeschichte des Lesens. Berlin 2004.