In echt.

Ein typisches Argument der Diskussion um digitale Medien und Schulen findet sich in einem taz-Interview mit dem Gymnasial-Lehrer Günter Steppich: Smartphones seien ein Zeichen des Kontrollverlustes der SchülerInnen, Eltern und Lehrpersonen. Den Umgang mit ihnen lerne man aber quasi eh automatisch – er könne daher problemlos beliebig verboten werden.

Interessant an Steppichs Argumentation ist aber eine Verschiebung in den Oppositionen. Er spielt die Smartphone-Nutzung, die nur zum „Daddeln“ verleite, gegen Computer-Kenntnisse aus:

„Wir Lehrer stellen fest, dass unsere Schüler auf einmal deutlich weniger Kenntnisse am PC haben als noch vor drei Jahren – weil sie, sobald sie ein Smartphone besitzen, am Computer überhaupt nichts mehr machen. Manche Schüler kommen zu mir und sagen: Ich habe meinen USB-Stick eingesteckt, und jetzt finde ich ihn auf dem Computer nicht. Wo soll ich denn meine Präsentation speichern? Das ist völlig irre. Früher hat man seine Geburtstagseinladung mit Word geschrieben und ausgedruckt, heute wird eine WhatsApp-Gruppe gemacht.“

Ich frage mich, was das ständige Ausspielen vermeintlicher Qualitäten gegeneinander denn nun letztlich bringen soll. Ist eine mündliche, handschriftliche, gedruckte oder ge-WhatsApp-te Einladung denn nun wirklich nachweisbar irgendwie besser als die jeweils anderen Versionen? Wäre dieser Text klüger geworden, hätte ich ihn mit dem selbst angefertigten Gänsekiel auf handgeschöpftes Papier geschrieben?

In einem ähnlichen Gedankengang schlägt wohl die Waldorfschule in Zürich vor, dem Erlernen des Tastentippens das der Kalligraphie beizustellen. Das ist freilich als Ausgleich gedacht: digitale versus analoge Schrift in möglichst höchster Potenz. Wie die SchülerInnen das wahrnehmen ist die eine Frage – aber ob es den Umgang mit Fragen der Digitalisierung wirklich vereinfacht, durchwegs in Oppositionen zu denken und damit zum (Ver)Urteilen angeleitet zu sein?

Solche Diskussionen führen erfahrungsgemäß in’s Nirvana – und werden zeitgleich von denen, über die geredet wird, obsolet gemacht. Die sind derweil nämlich längst schon auf der Geburtstagsparty eingetroffen und haben Spaß miteinander. In echt.

 

Noten, Druck, Geld

Mein Goodread für heute: Ein Interview mit dem Schweizer Kinderarzt Remo Largo. Der ist bekannt für ziemlich kluge Bücher, in denen Forschungen zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zusammengefasst sind.

Im Interview finde ich erdrückend viele Gedanken, mit denen es lohnte, Zeit zu verbringen. An meine Themen dockt vor allem der Teil des Gesprächs an, in dem es um Nachhilfe und Hausaufgaben geht. Beides Felder, die viele Elternhäuser und SchülerInnen in der Oberstufe beschäftigen – und die auch mich ziemlich umtreiben.

Largo: (…) Doch das ist gerade der Irrsinn an unserem Schulsystem: Alles dreht sich nur noch um Noten, immer nur darum, Kinder mit anderen Kindern zu vergleichen. Der Einzelne und sinnvolles Lernen sind nicht unsere Hauptanliegen.

SPIEGEL: Was hat sich zu ändern?

Largo: Der Unterricht sollte sich am einzelnen Kind mit seinen individuellen Fähigkeiten ausrichten und selbstbestimmtes Lernen gewährleisten. Noten gehören abgeschafft, weil Kinder damit zu stupidem Auswendiglernen gezwungen werden. Ohne Noten müssen sich die Lehrer vermehrt um die Lernmotivation der Kinder bemühen. Auch Hausaufgaben lassen sich in keiner Weise rechtfertigen, das ist nur Outsourcing von Verpflichtungen der Schule hinein in die Familie.

SPIEGEL: Sind Hausaufgaben nicht sinnvoll, weil sich ein Kind dabei selbständig mit einer Sache beschäftigt?

Largo: Dieses Argument höre ich immer wieder. Aber das würde ja heißen, die Kinder arbeiten in der Schule nie selbständig. Hausaufgaben sind Teil der Treibjagd für gute Noten. Schlimm daran ist auch, dass Eltern, die sich intensiv um die Hausaufgaben kümmern oder gar eine Nachhilfe engagieren, ihren Kindern einen schulischen Vorteil verschaffen. Der Werdegang eines Kindes in der Schule darf aber nicht davon abhängen, wie viel die Eltern dazu beitragen.

Spiegel: „Wie Kalb und Kuh.“

Das ist leider auch oft meine Beobachtung: Der Unterschied im Erfolg von SchülerInnen ist allzu oft sozial grundiert. Und insbesondere die Diskussionen über Nachhilfe zeigen mir immer wieder, wie widersprüchlich unser Blick auf schulischen Erfolg ist. So viele Gespräche sich darum drehen, wie es SchülerInnen geht – am Ende steht oftmals die Frage der Nachhilfe und mithin der Noten und des Geldes, das dafür ausgegeben werden muss und/oder des Drucks, der dann doch endlich mal entstehen solle.

((Auch der Rest des Interviews wäre ein guter Ausgang für einige Elternabende/Elterngespräch bzw. könnte mit SchülerInnen diskutiert werden.))

Die richtigen Ängste wählen.

Zwei Lektüren im Sonntag: In der SZ schreibt der Philosoph Christoph Türcke eine Polemik, in der er sich auf die Seite der LehrerInnen stellt, die um ihre Job-Profile fürchten. Er beginnt mit einer realen Angst – der davor, dass Schule zu einer Wasserträger-Einrichtung des Neoliberalismus werden könnte:

„Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat Millionen in Kompetenzmodellierungsprogramme gesteckt. Aufwendig versuchen diese, die spezifische Kompetenz zu operationalisieren, über die jemand verfügen soll, wenn er in der Lage ist zu gehen, bis zehn zu zählen, Verben von Adjektiven zu unterscheiden, einen mittelschweren Text zu verstehen, ein Integral zu lösen oder eine Sonate zu spielen. Doch Menschen kommen dabei nur noch als Kompetenzbündel vor. Der gemeinsame Fundus, aus dem diese disparaten Kompetenzen hervorgehen, die Person, in der sie zusammenhängen, interessiert nicht mehr. Sie lässt sich ja nicht isolieren und validieren wie einzelne Verhaltensweisen. Nur die aber zählen noch. Kompetenzen werden behavioristisch reduziert: zu geldwerten Verhaltensweisen, von denen man beim Gang zum Arbeitsmarkt durch Schule und Hochschule möglichst viele anhäufen soll.“

Dass Türcke aber offenbar nicht verstanden hat, gegen was sich das Nachdenken über Kompetenzen richtet, baut er sich einen Pappkameraden als Gegner auf: die Digitalisierung.

„Weil Lernen nicht so funktional-linear-kleinschrittig verläuft, wie das Kompetenzkonzept es wünscht. Und weil Maschinen niemandem elementare Lernvorgänge ersparen. Was im Computer ist, ist noch längst nicht im Hirn. Und das Hirn ist keine Festplatte. Addieren und Subtrahieren an den Rechner delegieren, Orthografie ans Rechtschreibprogramm, Vokabeln und Geschichtsdaten nachschlagen statt memorieren, Geografie durch Google Earth ersetzen, befreit vom Ballast herkömmlichen Wissens kreativ durchs Netz surfen, dabei spielend lernen und unentwegt mediale Kompetenzen ansammeln: So funktioniert das nicht. Da bleibt wenig hängen. Ein mentaler Boden, worin Erlebtes Wurzeln schlagen und sich mit anderem zu dauerhaften Kompetenzen verbinden könnte, bildet sich erst gar nicht.“

Dass bei der Einbindung digitaler Medien in den Schulunterricht gerne viel schiefläuft, ist ja auch unter den Pädagoginnen, die hier eifrig an Konzepten arbeiten, kaum umstritten. Nur sehen die das Problem ganz anderswo: nämlich darin, dass Lehrpersonen oftmals versuchen, bequeme tradierte Varianten der „Bulemie-Pädagogik“ in neue Lehr-Formate zu gießen. Man tauscht den Tageslicht-Projektor einfach gegen einen Beamer aus, geriert sich weiter als Gatekeeper der Wahrheit, anstatt wirklich über Wissens-Konzepte und anhängige soziale Fragen nachzudenken. Insofern soll, wie es in Türckes Beispiel heißt, Geographie freilich nicht durch GoogleEarth ersetzt werden. Aber durch soetwas wie GoogleEarth entstehen Freiräume, Unterricht anders zu denken.

In diese Freiräume aber – so Peter Sloterdijk in einem zweiten Text, über den ich heute gestolpert bin – muss man als Lehrperson nur mehr einladen. Man kann niemanden dorthin zwingen, ohne aus dem Freiraum wieder die Kaserne zu machen, aus der unsere Schulen einmal entstanden sind. Und daher, aus diesem Machtverlust, rührt die Angst wohl wirklich, aus der sich auch Türckes Text speist.

Es ist schwer einsehbar, warum klassische „Chalk-and-Talk“-Pädagogik die 30 SchülerInnen, die von der Tafel abschreiben, irgendwie menschlicher behandeln soll. Und auch auch sein Neoliberalismus-Vorwurf verfängt kaum. Denn in dessen Diensten stehen Schulen eh. Für was sonst sollen sie ausbilden? Fraglich ist wohl nur, ob das „System Schule“ die aktuellen Debatten und mithin auch die Möglichkeiten der Digitalisierung als Ausweg nutzen kann, um andere Räume zu öffnen, zu anderem Arbeiten einzuladen.

[Sloterdijk:] Die Geste der Einladung ist vielleicht das Wichtigste. Durch sie werden die Schulen sozusagen Gästehäuser des Wissens und Ausflugsziele für die Intelligenz.

Wäre das das Ende der Pflichtschule?
Wir müssen mit dem schädlichsten aller alteuropäischen Konzepte brechen: mit der Vorstellung der simplen Übertragbarkeit von Wissen. Diese Vorstellung des Einflößens ist systemtheoretisch falsch, sie ist moralisch falsch …

… kognitionspsychologisch nicht haltbar …
… und trotzdem ist die Schule um diese Idee herumgebaut, um diesen wahrhaft verfluchten und schädlichen Übertragungsgedanken. Doch so funktioniert das Lernen gerade nicht. Man muss respektieren, dass wir es immer mit Menschen zu tun haben, die jeweils in ihrer Weise fertig sind. Bis hierher vollkommen und ohne wirklichen Mangel.
Der nächste Zustand kann nur aus den Eigenleistungen dessen, was schon fertig ist, aufgebaut werden. Dabei kann ein Lehrer eigentlich nur stören, es sei denn, er wird so etwas wie ein Gastgeber, ein Trainer oder – im guten Sinne – ein Verführer, der dort schon ist, wohin der nächste Schritt des Kindes führt. In solchen Gästehäusern könnte der pädagogische Pakt aus dem Prinzip Vorfreude geschlossen werden. Mit dieser dynamischen Libido, die das eigene Werdenkönnen ausleuchtet, müsste sich die Pädagogik wieder verbünden.

(„Lernen ist Vorfreude auf sich selbst“ in: brandeins)

Sloterdijk ist hier zwar wieder in seinem ich-erklär-euch-jetzt-mal-wie’s-wirklich-läuft-Modus unterwegs – aber scheint bei diesem Thema auf der Höhe der Diskussion zu sein. Ein wirklich lesenswertes Interview, dessen Inhalte ich gerade in der SZ oft vermisse.

*editiert am 9ten Juli, 21:03

Kein Sturm, kein Wasserglas.

((Eine Rezension, die ich für die Schulzeitschrift „Blickpunkt“ geschrieben habe.))

Geht es um das Thema „Neue Medien“, ist der Markt der Meinungen derzeit hart umkämpft. So nahm etwa die Schwäbische Zeitung vom 29.05.2017 die Blikk-Studie zum Anlass für den Titel: „Smartphones und Tablets schaden Kindern“. Dass die Studie aber nur in Auszügen bekannt ist und dass ihre Ergebnisse enorm diskussionsbedürftig sind, wird von solchen Schlagzeilen verdrängt. Darin spiegelt sich eine größere Tendenz: Gerade in Bezug auf die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen wird gerne und schnell pathologisiert. Auffälligkeiten werden dann zu Krankheiten, Veränderungen zu Anzeichen für Verfall erklärt.

Erst langsam treten dieser Tendenz einige eher nüchterne Betrachtungen entgegen. Ich werde hier zwei Bücher (das zweite folgt alsbald) vorstellen, die meines Erachtens überraschend wenig wahrgenommen werden. Beide zeichnet aus, dass sie klar und nüchtern argumentieren – und gerade damit ein Höchstmaß an Empathie für die Lebenssituation von Eltern, Kindern und Jugendlichen aufbringen. Beide helfen aber vor allem dabei, eine fragende Haltung der Welt gegenüber zu bewahren.

Sie tun dabei aber nicht so, als wären reale Sorgen nur ein „Sturm im Wasserglas“. Im Gegenteil: Ihr Anliegen ist es, Sorgen besser einschätzen zu helfen. Beide setzen nämlich voraus, dass es zum einen keinen plötzlich auftosenden „Sturm“ gibt, weil wogende Sorge um die eigenen Kinder ja nichts neues ist; zum anderen behaupten sie, dass es auch kein „Wasserglas“ gebe, weil man den Bereich der Sorge (hier: die „Medien“) gar nicht von der Lebenswelt als Ganzes, also dem „Ozean“, trennen könne.

Tja, aber wie soll man sich denn jetzt zurechtfinden, bei annähernd stillen Winden, mitten auf dem Ozean?

wasserglas_1
Ozean im Wasserglas.

Antwort 1: Gelassenheit wagen
Georg Milzner ist Psychotherapeut mit Schwerpunkt auf der Behandlung von Kindern und Jugendlichen und beschäftigt sich seit den 80er-Jahren mit dem Einfluss neuer Technologien auf menschliches Verhalten. Der Titel seines Buches „Digitale Hysterie“ ist nicht zufällig an die Titel einiger Bestseller auf dem Ratgeber-Markt angelehnt. Denn Milzners Anliegen ist es, auf den oft hysterischen Ton sowohl der Ratgeber als auch der Ratsuchenden gelassen, gut informiert und mit größtmöglicher Hinwendung zu den Kindern und Jugendlichen zu antworten.

Erwachsen ist dieses Anliegen offenbar aus seiner beruflichen Erfahrung: Die Kinder mit großen „Medien-Problemen“, von denen viele Theoretiker derzeit sprechen, kann er in der Praxis nur äußerst selten finden. Sein Buch will Eltern daher eine andere Einschätzung der Lage bieten und geht dafür von vier Thesen aus:

  1. Jegliche Probleme, die Jugendliche in Bezug auf ihre Medien-Nutzung haben können, stehen auf zwei Beinen – Information und Beziehung. Wer nicht weiß, in welcher Welt Kinder aufwachsen, verliert den Kontakt zu ihnen. Das Gleiche gilt, wenn es nicht mehr gelingt, vertrauensvoll über ihre Probleme zu sprechen.
  2. Mithin sind diejenigen Probleme, für die Medien-Nutzung gerne verantwortlich gemacht wird, oftmals sozialen Ursprungs. Wer beispielsweise das Bedürfnis hat, viel allein zu sein, der hat dies laut Milzner auch ohne ein Gerät, das ihm dies eventuell erleichtert. Etwa weil Freundeskreise zerbrechen, persönliche Enttäuschungen Überhand nehmen oder die Aufmerksamkeit von Bezugspersonen schwindet. Übersteigerter Medienkonsum ist dann mehr Symptom als Problem.
  3. Der Ursprung klinischer Diagnosen kann daher auch hier nicht monokausal, also in nur einem Grund bzw. Zusammenhang alleine gefunden werden. So gibt es etwa keine „Killerspiele“, die Menschen zu Mördern machten. Es gibt aber sehr wohl einzelne labile Menschen, denen, wenn sie in sozialer oder psychischer Not sind, diese Spiele nicht guttun.
  4. Aus all dem folgert Milzner, dass die Rolle, welche man Verboten oder der so genannten „Medien-Abstinenz“ gibt, gemeinhin weit überschätzt wird. Denn zum einen spüren oder wissen Jugendliche, dass sie einen großen Teil der Wirklichkeit und des sozialen Austauschs verpassen. Zum anderen sind harsche Verbote für sie meist nur ein Zeichen, dass Erwachsene hilflos sind und die Welt nicht mehr verstehen. Dass wiederum die Oberschicht des Silicon Valley ihren Kindern solche Abstinenzen verordnet, lässt sich somit eher als Zeichen ihrer Privilegien lesen: Wer wie die Familie von Steve Jobs aufwächst, der kann sich von anderen Schichten abgrenzen, indem er auf etwas verzichtet, was für deren Leben essenziell ist.
    Milzner plädiert hier für Gelassenheit und Offenheit. Sein Beispiel: Das Familiengespräch über den Konsum von Zucker oder später Alkohol. Hier falle es den Eltern im Regelfall auffallend leichter, zumindest auf ein grundlegendes Verständnis zu stoßen, wenn sie ein ernsthaftes Anliegen haben. Das liege vor allem daran, dass ihre Meinungen auf diesem Gebiet als kompetenter und ausgewogener wahrgenommen werden.


Antwort 2: Ungewissheiten hinnehmen
Mit diesen Thesen lässt sich gut streiten. Allein deswegen ist Milzners Buch ein Gewinn für die Diskussion. Darüber hinaus bietet er seinen LeserInnen aber auch einen sehr guten Einstieg in einzelne Facetten des Themas. Verständlich geschrieben und gut informiert führt sein Text durch enorm komplexe Gebiete wie die Intelligenzforschung, wissenschaftliche Methodik, Gewalt-Forschung oder die verschiedenen Definitionen von Sucht.

Mit Ratschlägen hält er sich hingegen meist zurück – sein Anliegen ist es, seine LeserInnen zum genaueren Hinschauen und zum besseren Argumentieren anzuregen. Sein Buch ist also ein aufklärerisches. Das liegt auch daran, dass er fundiert begründet, wie wenig man fundiert begründen kann. Dass die Gewöhnung kleiner Kinder an Einsamkeiten und einfache Belohnungs-Mechanismen heikel ist, gehört zu diesem Wenigen. Wie das aber z.B. ab der Pubertät aussieht, das muss man in seiner Komplexität erst einmal nur ahnen. Nach 242 Seiten kennt man sich aber zumindest soweit aus, dass man kluge Fragen stellen kann: in die öffentliche Diskussion, an sich selbst und vor allem an die Jugendlichen.

Wie Milzner es dabei schafft, sowohl sachlich und kompetent als auch liebevoll und empathisch zu sein, kann man ihm gar nicht hoch genug anrechnen. So ist allein der Ton, in dem er schreibt, vielleicht schon ein Anlass, mit anderen Augen in die Welt zu schauen.

Georg Milzner: Digitale Hysterie. Warum Computer unsere Kinder weder dumm noch krank machen. Weinheim 2016. (256 Seiten)

Mimimi-milch

Ein sicheres Anzeichen für den Untergang des Abendlandes: Die Kinder wissen nicht mehr, woher die Milch kommt.

Also, bevor sie im Supermarkt steht.

Mit dieser Erzählung klopfen sich die in die Milchherkunft Eingeweihten (kurz: Milluminaten) rhetorisch auf die Schulter und empört fordern sie eine Welt zurück, in der die armen Kinder wieder regelmäßig Melken gehen. Oder zumindest der Kuh recht freundlich „Danke“ sagen. Oder zumindest dem Melkenden persönlich das Geld in die Hand geben. Oder zumindest den Milchkarton mit der aufgedruckten Kuh kaufen. Oder zumindest… Veganer.

Ich habe das als Kind der 80er auch erzählt bekommen und mich interessiert das heute wieder, weil es in eine bestimmte Art von Erzählungen über die Welt passt, die ihren Kulturpessimismus mit Strohmann-Argumenten vorantreibt. Denn: Es mag sicher Kinder geben, die noch keine Kuh gesehen haben; vielleicht nicht mal ein Bild, das Kühe und Milchkartons in Verbindung bringt (obwohl das gerade aufgrund der Erzählungen der Werbung unwahrscheinlich scheint).

Aber dass man jemanden finden könnte, der das Kindesalter hinter sich hat, diese Frage gestellt bekommt und die Antwort nicht zumindest finden kann… Glaubt das irgendwer? Und selbst wenn: Was sagt das nennenswert über Kinder aus, wenn man doch zumindest davon ausgehen kann, dass zumindest oberflächliches Milchherkunfts-Wissen keinem Jugendlichen mehr verborgen bleiben kann?

Und natürlich steckt in dieser Erzählung auch die Frage nach dem Umgang mit Kühen und der Bezahlung von Bauern/Landarbeitern/usf. Aber dass diese Probleme gelöst wären, wenn die Kinder mehr draußen spielten, weniger der Werbung glaubten und öfter das Smartphone weglegten… Hajo, das Argument ist dann doch eher ein Bumerang, und die Erzählung handelt wohl vielmehr von den Guilty Pleasures der Eltern, auf dem Wegstück zwischen Neubaugebiet und Supermarkt.

Man traut den Kindern eben jede Frechheit zu, nur nicht die, dass sie einfach kein Interesse an den rhetorischen Spielchen der Erwachsenen haben.

Bühne frei für die Trolle:

Bildschirmfoto 2017-05-27 um 12.42.20
Tja, was will man darauf antworten? – Am besten alles. (Quelle: Diskussion auf gutefrage)

Hochmut und Hochliteratur: Die Leser, die wir riefen.

Ein großer Teil meiner Vermittlungsarbeit, wenn ich mit KollegInnen aus anderen Fächern aber auch mit Eltern und SchülerInnen spreche, ist es, zu erklären, wie ich mich für Unterrichts-Themen entscheide. Das lässt sich meist herunterbrechen auf die Frage, warum sich Inhalte und Methoden ändern: Ist „der Goethe“ jetzt auf einmal schlecht? Können „die Kinder“ denn heutzutage keine guten Bücher mehr verstehen? Machen „die Lehrer“ es sich zu einfach, laufen sie jedem Trend nach?

Meine beiden größten Entscheidungshilfen, um Lektüre-Möglichkeiten einzuordnen:

  1. Wie kann man den Text lesen? Welche Fähigkeiten und Lese-Haltungen spricht er an?
  2. Wen spricht dieser Text an? Welche Lese-Perspektiven bietet er, welche LeserInnen schließt er aus, welche Vor/Urteile begünstigt er?

Damit stelle ich mir auch die Frage, welche LeserInnen mein Unterricht begünstigt – und welche er ausschließt.

wangen_stadtbc3bccherei_skulptur
Leser und Kanon: Wer hält hier wen? (Foto: Andreas Praefcke, Quelle: Wikimedia Commons)

 

Felder der Kritik
Einen hilfreichen Denk-Anlass hat mir letzte Woche die Bloggerin Katharina Herrmann geliefert: Anhand von Pierre Bourdieus Feldtheorie und dessen Anwendung auf das Feld der Literatur skizziert sie, wie wir dazu kommen, bestimmte Praktiken des Lesens akzeptabel zu finden – oder eben nicht. Sie weist damit auch darauf  hin, dass Begründungen dafür, warum manche Lese-Neigungen nicht geschätzt werden, oftmals auf tradierten sozialen und geschlechterspezifischen Vorurteilen basieren.

Zugespitzt: Das den weniger Gebildeten und den Frauen zugeschriebene emotionale und massenhafte Konsumieren von Texten wird meist weniger geschätzt als das männlich codierte genaue und vertiefende Arbeiten mit den dazu passenden schwierigen Büchern. Hinzu kommt freilich noch die Hierarchie der Medien, an deren Spitze Bücher zu stehen haben.

Ein Argument, das dann schnell zur Hand ist: Manchmal müsse man sich zum „Guten“, zum „Schönen“, zum „Tieferen“ eben erst wagen – manchmal gar gezwungen werden. Aber damit ist das Problem nicht gelöst, nur verschoben. Wer entscheidet denn, was tief ist – und ob diese „Tiefe“ auch für jede/n die erwünschte Wirkung beim Lesen zeitigt?

Privilegien
Ein blinder Fleck des Schulunterrichts, insbesondere an Waldorfschulen, ist das von Bourdieu beschriebene Klassendenken, welches jedem Kanon innewohnt. Auch dem des Faches „Deutsch“: Was zum Teil des Kanons der hochgeschätzten Texte wird, bestimmen Gruppen, deren Mitglieder schon viel an sozialer Macht angehäuft haben – und das tun sie im Kontext einer Fachgeschichte, die aus der Bildungselite des 19ten Jahrunderts mit all ihren Ab/Neigungen erwachsen ist.

Da tut es kaum Wunder, dass sowohl die kanonischen Texte an Waldorfschulen als auch etwa die staatlichen Abitur-Lektüren von grübelnden, privilegierten, weißen Männern handeln und anders gestaltete Figuren oftmals nur zum Kontrastieren der Protagonisten-Probleme dienen dürfen. Oder die gesellschaftliche Norm wird zum Ziel von Handlung und Hauptfigur, wie etwa im Fall des Parzival.

Unser Literaturunterricht wird jedoch mit dem Argument, die Schüler an „großen Werken wachsen“ zu lassen, stark an derartigen Kanones ausgerichtet. Mithin wird oft gesehen, aber selten ausgesprochen: Der Humanismus, aus dem dieser Kanon erwachsen ist, ist freilich auch einer der Privilegierten, durch den wir unsere Schüler für ebensolche Zusammenhänge anschlussfähig machen. Humanismus ist dann aber nicht mehr nur eine Haltung gegenüber der Welt, sondern auch der Stolz auf die eigene Lesebiographie und deren Tradition. Er ist dann im Wortsinne ‚konservativ‘.

Hochs und Tiefs
Herrmanns Text hält dieser Tradition ein Lesen entgegen, das Vergnügen verspricht und andere Sparten von Medien, Inhalten und Erzählweisen bedient als die sogenannte Hochliteratur. Sie weist damit auf die Einsicht der Kulturwissenschaften hin, dass die Idee der „Tiefe“ eines Textes meist nur recht einseitig definiert wird: Tief ist, was einer bestimmten Vorstellung von Nachdenken/Philosophieren entspricht.

Bestimmten Gattungen von Texten wird zudem oft gar jede Möglichkeit von „Tiefe“ abgesprochen: Weil sie bestimmte Personengruppen ansprechen (etwa Jugendliche, Frauen), weil sie bestimmte Themen haben (etwa Sexualität, wirres Zeug), weil sie bestimmte Figuren und Orte erzählen (etwa Zauberer, Fantasiewelten, Science Fiction), weil sie bestimmte Formen haben (etwa Comics, Videos, alles-mit-Internet) usf.

Im Zuge dessen weist sie darauf hin, dass dieser Art der Teilung von Hoch- und Trivialliteratur bzw. einer Hierarchie der Medien traditionell ein Geschlechter-Bias innewohnt:

Männer lesen anders als Frauen. Frauen lesen anders als Männer. Big deal. Aus Konstruktivismus und von der Rezeptionsästhetik wissen wir: Jeder Mensch liest ein Buch auf seine eigene Art, abhängig von Sozialisation, Vorwissen etc. Männer und Frauen werden geschlechtstypisch unterschiedlich sozialisiert. Sie machen unterschiedliche Lebenserfahrungen. Natürlich lesen sie unterschiedlich. Aber: Obwohl Frauen die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, obwohl „weibliches Lesen“ als kulturelle Praxis nach wie vor da ist und vermutlich häufiger auftritt als das „männliche Lesen“, ist es nicht so viel wert wie das informationsorientierte, sachliche Lesen.

(Katharina Herrmann – Zur Kritik des normierten Lesens.)

Das Argument kann man, wie oben beschrieben, ebenso über die Kategorie ‚Klasse‘ laufen lassen. Beides hilft, es ganz pragmatisch an den Unterricht und seine TeilhaberInnen zu binden: Die Schranke „Hochliteratur“ filtert eine ganze Reihe an Texten und Medien aus dem Kanon – und mit ihnen die Interessen und die Lebenswirklichkeiten einer großen Menge an LeserInnen. Mit der „Tiefe“ der Texte, also ihrem Anspruch an das Unterrichtsgeschehen, hat das nicht zwingend etwas zu tun.

Ostereier
Zudem stellt sich da für mich erneut die Frage, ob nicht jede Form von Literatur, oder besser: von Text anspruchsvoll gelesen werden kann. Ich denke, Literatur-Unterricht sollte nicht zum Ostereier-Suchen nach tiefen Gedanken kluger AutorInnen verkommen. Mein Wunsch wäre es eher, dass meine SchülerInnen sich jeglichen Texten, denen sie begegnen, neugierig, interessiert, selbstbewusst nähern können. Wenn Unterricht soetwas wie „Kompetenzen“ oder eine Art Selbstbewusstsein schulen bzw. stützen soll, dann wäre das doch ernstzunehmen.

Hilfreich ist dafür die Perspektive der Kritik. Stefan Mesch fügt dem Artikel von Katharina Herrmann eine Reihe sinnvoller Ansatzpunkte zur Formulierung von Kritik und zur Schärfung der Leserperspektive hinzu. Diese können m.E. helfen, den Dualismus Hoch-/Trivialliteratur (nicht nur) in der Schule aufzulösen. Zumindest, wenn man eher daran interessiert ist, gute (also im besten Sinne selbst-bewusste) LeserInnen zu bilden – anstatt von solchen, die nur Meinungen reproduzieren:

Als Kritiker bin ich schnell gelangweilt von Büchern, Serien, Filmen, Comics, Erzählwelten, in denen…

1 – Figuren sich kaum entwickeln oder ändern; am Anfang schon absehbar ist, wie die Geschichte endet; oder jeder Teil, jede Episode nach dem selben Muster erzählt ist (z.B. “Monk”).

2 – Nebenfiguren so eindimensional bleiben, dass ich bei Frauen denke “Wow: Sexismus?” und bei Figuren of Color: “Wow: Rassismus?” (z.B. “Two Broke Girls”).

3 – EIN Geschlecht angesprochen oder als Zielgruppe gedacht wird, und alle Figuren des anderen Geschlechts am Rand bleiben (z.B. “Herr der Ringe”).

4 – Die Hauptfigur NUR triumphiert und wir eingeladen werden, uns an ihrer Seite dem Rest der Welt überlegen zu fühlen (z.B. James Bond, Batman).

5 – Sprache so egal ist, dass mich Klischees wie “rabenschwarze Nacht” und “ihr Herz blieb fast stehen” ablenken (z.B. die meisten deutschsprachigen Krimis).

6 – Figuren Berufe, Krankheiten oder Expertengebiete haben, die niemand richtig recherchiert hat (z.B. “Marienhof”).

7 – Alle Figuren außer den Helden Trottel, Abschaum, Monster bleiben (z.B. “Fear the Walking Dead”? Ich schwanke noch).

8 – Eine Grundstimmung ohne Höhen und Tiefen “zum Abschalten” einlädt: Statt Irritationen und Details, die man im Hinterkopf behalten sollte, bleibt alles ein harmloser, gemächlicher Brei (z.B. “Sturm der Liebe”).

9 – Gegner keine Argumente haben, nichts dazu lernen, oft nur für das “Falsche”, “Perverse” Andere stehen, über dessen Bestrafung wir uns freuen sollen (z.B. Märchen, “Law & Order”, Kinder- und viele Disney-Bösewichte).

10 – Dinge erzählt werden, die schon lange erzählt werden, auf eine Art und Weise, die niemanden stören, erschrecken, herausfordern soll (z.B. “heitere” Unterhaltungsromane).

(Stefan Mesch – Schlechte Blogs, Schlechte Bücher, Schlechte Maßstäbe: Wo wird mir Literatur… zu platt?)

Ähnliches können Tools wie etwa der bekannte Bechdel-Test leisten.

Offenheiten
Dieses Nachdenken ist freilich einerseits durch eine Erweiterung des Kanons bzw. Text-Begriffs anzureichern, wenn man den eigenen Unterricht als mit der Lebenswelt, der Gegenwart verbunden sehen mag. Andererseits ist ein Lesen des Kanons freilich eine sinnvolle Art der Auseinandersetzung mit Tradition bzw. Geschichte. Diese aber rein zustimmend oder gar ganz ohne Reflexion von Wertungen und deren Kontexten in den Unterricht zu bringen, ist sowohl gegenüber den SchülerInnen als auch gegenüber den gelesenen Texten recht respektlos.

Pokémon Go, Macht und Metaphern

Ich habe vor Kurzem einen Vortrag über neue Medien und Kinder/Jugendliche besucht. Der Abend war an Eltern und Jugendliche, LehrerInnen und Gäste gerichtet, das Publikum war entsprechend gemischt. Als Einstieg wählte der Redner Pokémon Go. Dies sollte einerseits grundlegend erklärt werden – viele hatten davon noch nicht gehört – andererseits war aufzudecken „was dahinter steckt“.

Eine zentrale Pointe der Darstellung war folgender One-Liner: „Konzerne steuern, wohin Jugendliche gehen.“

Mir machte die Zeile klar, was in der Medienpädagogik und deren Vermittlung oft schiefläuft: Ängste werden instrumentalisiert, um vermeintliche Klarheiten zu schaffen.

Ängste klammern sich an Metaphern

Vielen raucht schon beim Wort „Digitalisierung“ der Kopf. Ihnen soll mit verständlichen Metaphern und argumentativen Zuspitzungen Orientierung gegeben werden. Diese Stilmittel lenken dabei möglichst rasch vom allzu komplizierten Kleinklein weg, hin zu größeren und schon bekannten Problemen, die leichter einzuordnen scheinen. Das hat aber, wie alle Vereinfachungen, seinen Preis. In diesem Fall bezahlen ihn die Jugendlichen: Sie werden als Opfer dargestellt, damit die Täter sichtbar werden können. Das scheint mir jedoch sehr gewollt.

Denn die SpielerInnen werden trotz aller „Macht“ der am Spiel beteiligten Unternehmen nicht von diesen gesteuert. Pokémon Go mag perfide Wege der Einbettung von Werbung gehen – aber eine Beeinflussung ist hier wie bei jeder Werbung nur ein mehr oder weniger starkes Angebot und kein Zwang. Letzteres aber legt die Metapher des „Steuerns“ nahe.

Wie bei vielen Alltagsmetaphern wird auch diese oft nicht als Bild wahrgenommen. Vielen Menschen ist es geläufig, dass es zu den Kennzeichen anonymer Großkonzerne gehört, dass sie (über-)menschliche Eigenschaften haben: etwa einen eigenen Willen und die Fähigkeit, ihn machtlosen Einzelpersonen aufzuzwingen. Als Teil der Alltagssprache verwischt die Metapher in Sphären der Wahrheit. Das ist halt so. So machen die das. Und mit wehrlosen Jugendlichen gleich drei Mal.

Hier, so vermute ich, schleicht sich noch eine zweite nicht totzukriegende Metapher ein. Die der „Gehirnwäsche“: Jemand/etwas wirkt so stark auf ein vormals freies Individuum ein, dass dieses danach unter einer Form der Gedankenkontrolle steht. Auch dieses Bild beschreibt vor allem eine diffuse Angst und nicht eine konkrete Realität, die z.B. alle verschiedenen Pokémon Go SpielerInnen in all ihren verschiedenen Kontexten vereinte.

Opfer-Debatten

Solche Metaphern verdecken die Perspektive der Jugendlichen, bzw. der SpielerInnen. Sie verhindern andere Fragen, blockieren andere Perspektiven: Aus welchen Gründen spielen sie? Wie reflektieren sie das Spielen selbst? Welche Verbindungen zu anderen Interessen und Fähigkeiten schaffen sie dabei? Könnte es sein, dass die Gruppen der SpierInnen etwas vor den Nicht-Spielern, Erwachsenen, Lehrpersonen verstecken, was jene „positiv“ überraschen würde? Und konkret: Gehen Sie wirklich in ein Restaurant, das sie sonst nicht betreten würden, um dort ein verstecktes Pokémon zu finden? Und kaufen sie dann wirklich gedankenlos einen Burger? Wenn ja: Ärgern sie sich danach darüber? Tun sie dies ein zweites Mal? Sprechen sie miteinander über ihre Erfahrungen?

Dass sie sich überhaupt auf ein solches Spiel einlassen, wird oft verächtlich betrachtet. Dass die Frage der Freiheit in solchen Diskussionen eine reichlich komplizierte ist, wird unterschlagen. Von Jugendlichen wird mithin eine Reinheit verlangt, die kaum einer der Diskutanten selbst erfüllt. Ein realistischer, alltagstauglicher Begriff von Selbstbestimmung wäre doch vielleicht eher, bewusster mit Beeinflussungen umzugehen, und nicht so zu tun, als wäre es möglich, jeglicher Form von Beeinflussung zu entwischen.

Überdies wird von vielen unterschätzt, dass auch Jugendlichen durchaus bewusst ist, auf welche Spiele sie sich einlassen. So wie etwa der Begriff „Mode-Opfer“ eine Schmähung sein kann – aber auch als eine ironisch gewendete, souveräne Selbstbeschreibung verwendet wird: „Klar bin ich ein Mode-Opfer. Ich weiß, dass mich Kleidermarken beeinflussen, und integriere sie gerade deshalb bewusst in mein Selbstbild.“

Selbstermächtigungen

Solche Verkomplizierungen sollen freilich nicht leugnen, dass es echte Probleme gibt – so auch bei Pokémon Go: neben Trojanern, Überfällen, Unfällen, vor allem Verletzungen des Datenschutzes. Aber diese echten Probleme zu instrumentalisieren, um Jugendliche als quasi willenlose Zombies darzustellen, erscheint mir eine ziemlich naive, vor allem aber respektlose Strategie des Umgangs mit einer Überforderung der Erwachsenen. Mit einer solchen Überspitzungsstrategie verfolgt man zumindest unterschwellig das Ziel, sich selbst zu ermächtigen: Ich habe Dich durchschaut. Du kannst das nicht schaffen. Ich darf das jetzt für Dich regeln.

Mir wird bewusst, dass meine Gedanken gerade zu einer Kanonen-auf-Spatzen-Tirade werden. Der eingangs zitierte Satz ist vielleicht auch nur schlampig gedacht und formuliert; oder der Redner kannte eben sein Publikum und dieses erwartete von ihm klare, toughe Ansagen.

Dennoch steht der Satz symptomatisch für ein größeres Problem, das sich in ihm spiegelt: Solange „die Erwachsenen“ meinen, sie müssten Probleme für die Jugendlichen lösen, anstatt mit ihnen, spielen sie ihre vermeintliche Macht gegen die eigene Unsicherheit aus.

Kämpfen, um zu siegen?

Die Offenheit ihrer Zukunft ist das, was viele Eltern ihren Kindern wünschen – und gleichzeitig verwenden sie genau diese Offenheit in Form der Sorge als Machtmittel gegen sie. Für Eltern ist dies eine typische Geste der Überforderung, die sich bestenfalls im innerfamiliären Streit löst. Für Pädagogen, die eine Lernumgebung innerhalb einer Welt, die auch den Jugendlichen gehört und von ihnen mitgestaltet wird, gestalten sollen, ist diese Haltung fatal.

Dem gegenüber sollte vielleicht eher ein gemeinsames Fragen und ein weniger aufgeregtes als interessiertes Betrachten von neuen Erfahrungen stehen. Mithin die Einsicht: Wo „Neues“ auftritt, wissen alle Beteiligten nicht, damit umzugehen. Sonst könnte es ihnen ja nicht als neu erscheinen.

Ich denke, eine weniger am Rechthaben interessierte Pädagogik wäre hier angebracht. Man sollte als Pädagoge nicht mit Ängsten spielen, um sich damit Macht zu verschaffen. Wichtiger wäre es, immer wieder auf’s Neue die eigenen Vorannahmen zu prüfen. Wer etwa immer noch mit einer klaren Trennung von Realität und Virtualität argumentiert, hat grundlegende Einsichten der meisten Jugendlichen (und mithin jeglichen reflektierten Mediendiskurs) nicht verstanden. Die „Realität“ wird dann zum Kampfbegriff und soll alles verkörpern, was die eigene Lern-Biografie absichert: Der Satz „Das ist real.“ bedeutet in solchen Diskussionen meist nur: Ich habe es verstanden. So habe ich es gelernt – das kann doch nicht falsch sein. (Typischerweise: „Früher hat man Deutsch auch mit Büchern gelernt. Da wird das heute immer noch ausreichen.“)

Dass die Metapher des „Kampfes“ gegen neue Medien und insbesondere Smartphones – eines Kampfes, der eigentlich schon verloren sei – den Vortragsabend durchzog, scheint da symptomatisch. Vielleicht etwas platt ausgedeutet, doch folgender One-Liner begleitet mich seitdem wieder:

„Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt.“
(Franz Kafka, Zürauer Aphorismen. Frankfurt a.M. 2006, S. 52.)

 

Technologien, Pubertäten, Metaphern

Ein Krieg der Bilder.

Auf der einen Seite Bilder von Menschen, die auf ihre Smartphones starren – in Restaurants, Zügen und auf Fahrrädern, zwischen Terminen, während Gesprächen, mal offen und mal versteckt. Sie sollen zeigen, wie süchtig, wie isoliert, wie unaufmerksam die dargestellten Personen sind, sobald sie ein Smartphone benutzen. Ein Einschnitt.

Auf der anderen Seite Bilder, die Menschen darstellen, wie sie ähnliche Szenen mit quasi jedem anderen Medium erleben. Sie sollen zeigen, wie süchtig, wie isoliert, wie unaufmerksam Menschen nun einmal sind, wenn sie von einem neuen Medium fasziniert sind. Eine Konstante.

isolation
Isolation als Konstante. Man vermisst freilich die obsessiven Höhlenmaler… (Bildquelle: xkcd)

In einem anderen Zusammenhang erfand Kathrin Passig einmal den Begriff der Internet-Pubertät. Und die Phase, wenn wir von etwas Neuem so mitgerissen sind, dass wir nur noch kritiklos eintauchen wollen, kennen wohl viele. Der Clou an ihrer Idee von Pubertät: Man kann sie immer wieder erleben, solange man neugierig und begeisterungsfähig ist.

Zur Pubertät – und damit auch zu jener Metapher – gehören nun einmal auch die Konflikte mit Eltern. Eine älterer Kollege, dem ich einmal das Argument aus dem xkcd-Comic erklären wollte, meinte zu mir sinngemäß: „Weißt Du, das gehört eben dazu. Wir vermitteln den Kindern unsere Werte und sie wehren sich dagegen.“ In dieser Auseinandersetzung, so verstehe ich ihn, sollen die Jugendlichen ihre eigene Meinung bilden.

Da ist sicher was dran. Aber vermutlich sollte das nur eine Facette bleiben. Wenn die Schule sich kategorisch von der Welt oder Teilen der Welt isoliert, wie sie die Jugendlichen für wahr und wichtig nehmen, dann wird sie irgendwann nicht mehr ernstgenommen. Jeder weiß, mit welcher Betonung der Satz „Du lernst nicht für die Schule, du lernst für das Leben.“ für gewöhnlich vorgetragen wird. Ebenso auf der anderen Seite der Pubertäts-Metapher: Eltern, die darauf beharren, dass das Leben ihrer Kinder ein falsches ist, regen freilich Widerstand und Kreativität an. Aber sie sorgen auch mit recht großer Sicherheit dafür, dass ihre Kinder auf die Idee kommen, die wirkliche Welt beginne erst jenseits der eigenen Haustüre. Familien können das überleben. Die Pubertät ist nur eine Phase und man rauft sich wieder zusammen.

In der Schule bin ich da skeptisch. Wenn ihr Ziel nicht (nur) der Zusammenhalt und die Begegnung ist, sondern auch das Lernen – for whatever that means, und wenn Schüler ihre Lehrpersonen irgendwann nicht mehr als Mutter-/Vater-Alternativen sehen, dann bricht das Argument. Und mit ihm die Beziehung zu den Lehrpersonen, zur Schule.

Das heißt freilich nicht, dass ich alles kritiklos begrüßen muss, was ich bei Einzelnen oder in der Klasse wahrnehme. Aber ich sollte all dem zunächst einmal mit einem „Ja“ begegnen. Eben so wie ich auch der Klasse begegnen möchte. Wenn ich weiß, dass auch ich immer wieder eine neue Pubertät erleben kann, dann sollte ich auch den Pubertäten der anderen entspannt begegnen. Schließlich bin ich hier nicht Vater, sondern jemand, der beim Verstehen von „Welt“ behilflich sein sollte, der gemeinsam mit der Klasse in die Welt schaut.

Zurück zum Anfang: Es ist nicht schwer, herauszufinden, wie kreativ, wie hilfreich und wie sozial der Umgang vieler Jugendlicher mit ihren Gadgets ist oder sein kann. Es ist nicht schwer, herauszufinden, wie viele Probleme sie damit haben oder haben werden. Schwer ist es, von den Jugendlichen etwas über jene Welt zu lernen. Und das anzunehmen.

So auch der Krieg der Bilder. Es gibt gute Argumente für beide Seiten. Wer sich jedoch allzu stark an diesem Streit beteiligt, wird vielleicht nicht mehr nach  Lösungen suchen, sondern versuchen ihn zu gewinnen.

Aber wie sollte man eine Pubertät gewinnen?

special needs

Ein aktuelles Problem: den SchülerInnen einen Einstieg in Naturlyrik geben. (Das ist eines der Abitur-Themen in Baden-Württemberg.) Zunächst die Frage: Was soll das sein, „Natur“? Nach langem Rumeiern aller Beteiligten, nach Sammeln von Beispielen, die u.a. draußen-Sein, Joghurt-Herstellung und Schweine-Haltung umfassen, kommen wir in typische Erklärungsmuster.

Die Essenz: Natur heißt ‚ohne‘. Das können die meisten recht einfach nachvollziehen.

Natur-Joghurt ist der weiße, ohne extra-Geschmack. Natur-Nutztierhaltung ist ohne größere Gewalt und mit viel draußen-Sein. Und draußen-Sein heißt eben draußen vor dem Stall, vor dem Haus, vor der Stadt, abseits der Funkmasten und Klima-Anlagen. So zu erklären ist Teil des alltäglichen Lebens und Lesens.

Dem eingebaut ist ein Ideal des Verzichtens. Der Verzicht ist dabei aber nicht nur erstrebenswert, er soll auch kurieren. Das 1×1 der Kulturkritik.

Das zugrunde liegende Bild ist zunächst einfach und klar: ein wertender Dualismus. In der Stadt ist es voll – und ich fühle mich dort leer, ausgesaugt. In der Natur ist es leer – dort bin ich erfüllt, finde ich auch zu meiner Natur. Die Stadt ist die Norm, der Zwang. Die Natur ist der Verzicht, die Flucht – mithin die Freiheit. Dass es freilich einen Städter braucht, um die Natur als „Freiheit“ zu empfinden, ist erst der wirkliche Beginn der Diskussion (und fällt mit dem Gong zum Stundenende zusammen).

Auf dem Weg nach Hause – Zwischenstopp Bio-Supermarkt, Blick in die Medien, gehörte Gespräche – findet man unzählige Beispiele von Menschen, die Geschichten ihres persönlichen Verzichtens erzählen. Fastenzeiten oder vegane Experimente, Leben ohne Geld oder ohne Arbeit – und aktuell mit großer Vorliebe: „digital detox“, das Leben ohne digitale Medien.

Der Begriff zeigt dabei schon die Erklärungsmuster auf: „Das Digitale“ mache krank bzw. süchtig und eine Kur helfe dabei, sich von giftigen Effekten zu reinigen. Zu diesen gehören für gewöhnlich Probleme der Aufmerksamkeitslenkung bzw. Konzentration, eine als oberflächlich empfundene Gesprächskultur oder vermisste Natur-Erlebnisse. Hinzu kommt der Zwang des Kollektivs.

Ein zufällig herausgepickter Erfahrungsbericht beginnt etwa so: „Ich habe diesen Sommer etwas Radikales getan. Ich habe abgeschaltet.“ Illustration ist ein Mann in Denker-Pose, auf einer Bank, mit einem (echten) Buch. Der Hintergrund deutet Wasser und Weite an, die Kamera versteckt sich hinter hohem Gras – hier soll niemand gestört werden.

Der Mann auf dem Foto trägt eine Uhr. Und das scheint kein Zufall zu sein. Denn der Detox als solcher ist eben ein Urlaub, ist begrenzt und kein endgültiges Adieu. So radikal ist man dann ja doch nicht. Und auch das hat einen Grund: Schon die milde Variante dieser vorgeblichen Radikalität ist ein doppeltes soziales privilegiert-Sein. Man muss sie sich leisten können und wollen.

Einerseits, das Können: Nicht jeder kann es sich erlauben, mal eben auf alles Digitale zu verzichten – wie sich eben nicht jeder Gestresste einen Urlaub, nicht jeder Süchtige eine gute Entziehungskur leisten kann. Andererseits, das Wollen: Wer es sich leisten kann, der belohnt sich doppelt. Durch die Erfahrung des Urlaubs und durch die Erzählung an die Daheim-Gebliebenen: ‚Ich weiß jetzt wieder, was wirklich zählt. Jetzt ein bisschen arbeiten, ein bisschen krank werden – und dann wieder Urlaub, Auszeit. Detox.‘ Und auch davon erzählt das Foto: Warum sonst ein digitales Bild für einen digitalen Text zum digitalen Detox? – ‚Sehnt euch.‘

(Nicht umsonst gehört es ja zu den Lieblings-Erzählungen der Detoxer, dass Steve Jobs oder Persönlichkeiten des Start-Up-Adels ihren Kindern bestimmte Medien verbieten.)

Die naheliegende Frage ist da freilich die nach dem Krankheitsbegriff, an dem sich ein solches Detoxen aufhängt. Und recht eigentlich ob es hier überhaupt um ein Kranksein geht, oder ob man nur eine schlechte Metapher nachplappert. Philippe Wampfler schlägt vor, es als eine Art psychische Krankheit zu sehen, als „Erfahrung der Leere“ – und so beschreiben es ja auch viele Detoxer.

questions_large
Leere, Fragen, Google. Was davon wird man im Urlaub los? (via xkcd)

„Leere gab es als Erfahrung schon immer, wie die bekannte XKCD-Frageliste zeigt. Burnout wohl auch. Die Frage ist: Gibt es eine spezifische digitale Leere, ein digitales Burnout? (…) Verstärkt die digitale Kommunikation allenfalls Vorgänge, die sich auch sonst abspielen würden? Oder haben sie eine spezifische Qualität, die eine Verschiebung bewirkt, die dann für sich allein genommen krank macht, die »Seele« angreift?“

Zurück in die Schulklasse: Wir lesen düstere Großstadtlyrik, nostalgisch-romantische Naturpoesie, klassisches Sehnen nach einer deutschen Wunsch-Antike, postmoderne Fragereien. Wir lesen sie auf Papier, wir sprechen die Worte, wir betonen effektvoll beim Vorlesen. Vor dem Fenster wiegen sich die Bäume im Wind. Manche von uns sind vertieft, andere sind verträumt. Wieder der Gong. „Leere als Erfahrung gab es schon immer.“