Man müsste mit einem Rant beginnen. Mir zumindest fällt nichts besseres zu dieser Textauswahl ein.
Wieder alte, weiße, selbstgerechte Männer. Keine Autorin, keine weibliche Hauptfigur. Von wirklich „fremden“ Perspektiven ganz zu schweigen. (Und auch über die Plots und das Storytelling sollte man mal reden…) Stattdessen Protagonisten, die dann ja schon irgendwie so grundsätzlich für und gegen irgendwas sind – was dann aber kaum etwas mit dem Leben der SchülerInnen oder den Lebenswelten und Problemen, die wir gerade zu bewältigen haben, zu tun hat. Wieder Klassiker des Schulkanons, über die man dann mit den Eltern gemeinsam lästern kann, die das in ihrer Schulzeit auch schon gelangweilt hat.
Der Unterricht als Fußnote
Klar: Angeblich steht Heinrich Faust mit seinen SchattenprotagnistInnen für „die Moderne“ (was auch immer das sein mag), angeblich ist Harry Haller der Außenseiter, der den Extremen des 20ten Jahrhunderts Paroli bietet, angeblich kennt schon Anselmus Parallelwelten, die denen ähneln, in die wir angeblich so gerne flüchten…
Aber all diese Themen sind entweder passé oder dermaßen weit vom aktuellen Diskussionsstand entfernt, dass der Unterricht quasi nur in den Fußnoten zum Text stattfinden könnte: ob die Wissenschaftskritik oder das Individualismus-Problem Fausts, ob Harry Hallers Technologieverzweiflung oder seine oberflächlichen Grübeleien über Sexualität… das alles findet in einer Galaxie statt, zu der wir den Kontakt erst einmal wieder aufbauen müssten. Und ich frage mich, ob es diese Mühe wirklich wert ist. Denn die Texte sind stilistisch und in ihren historischen Kontexten schon derart anspruchsvoll, dass man einen weiten Weg bis zum Tellerrand hat, über den zu schauen dann spannend wäre.
Begeisterung anyone?
Doch am Ende bleibt nicht viel, außer nur an und mit Widerständen zu arbeiten. Es ärgert mich, dass SchülerInnen Texte lesen lassen muss, die man fast durchweg gegen den Strich zu bürsten hat, wenn man sie heutzutage ernst nehmen will. Oder wie will man diese Texte z.B. als junge Frau im Jahr 2018 lesen, ohne entweder die Faust in der Tasche zu ballen (no pun intended) oder den Kopf auf dem Tisch auszuruhen? Ist man nicht irgendwann mal zu alt für Fragen wie „Wer wäre denn heute so ein Harry Haller?“ oder „Was würde Faust zum Klimawandel sagen?“ oder „Was würde ein weiblicher Anselmus tun?“
Denn – mal ernsthaft: Glaubt irgendjemand, dass sowas den SchülerInnen wirklich einleuchtet? Und dass jemand, der nicht eh schon auf kanonisches Wissen, Pflichterfüllung oder einen 15-Punkte-Durchschnitt geeicht ist, diese Texte auch nur liest? Kann das irgendjemand wirklich guten Gewissens in Verbindung mit den Problemen der Gegenwart verkaufen? Was genau will so eine Auswahl inhaltlich erreichen, außer bestimmte Vorstellungen „unserer“ Kultur zu konservieren? Ist das wirklich erstrebenswert – gerade angesichts der aktuellen Diskussionen? Mal abgesehen davon dass soetwas wie Weltliteratur anscheinend nicht mal einen Gedanken wert ist. Mal abgesehen davon, dass Autorinnen, nicht-MuttersprachlerInnen und aktuelle (oder zumindest breiter gefächerte) Varianten des Storytelling… puh. Warum kann „Begeisterung“ nicht Teil der Auswahlkriterien sein?
Ob mit oder ohne Begeisterung: Anstatt von wirklicher Auseinandersetzung mit Literatur (for whatever that means) wird der Deutsch-Unterricht, der in diesen Themenkreisen auf das Abitur vorbereitet, weiterhin eine Orgie des Auswendiglernens sein. Ich würde gerne mal eine gute Statistik sehen, wie viele SchülerInnen diese Texte (und auch die der vergangenen Jahre) wirklich auch nur gelesen haben.
*Edit: Tippfehler am 7. Juli ausgebessert.