I love Stress: Krisen, Kritik und der Wunsch nach Klarheit

Eine aktuelle Feuilleton-Debatte diskutiert eine „Krise der Germanistik„. Ihre Argumente sind so erhellend wie ernüchternd: Beklagt wird, dass das Fach quasi seinen Markenkern für Theorie-Debatten und popkulturelle Relevanz verscheuert habe. Darin zeigt sich freilich die schon lange Fach-intern gefochtene Debatte, wie man mit der Geschichte des eigenen Fachs, der Wahrnehmung und Wirkung von Kanones sowie dem Kontext gegenwärtiger Entwicklungen in Wissenschaft und Kultur umgehen soll.

Dass die Germanistik (so es sie denn überhaupt als eine Einheit gibt) ihren Text-Begriff, ihre Definitionen davon, was man mit Lesern und Autoren meint, und ihre Verbindungen zu anderen Diskurs-Orten ausbaut, macht das Fach freilich überkomplex. Aber warum muss das schlecht sein? Und für wen? – Auf mich wirkt das wie eine der vielen, derzeit so trendy geführten Debatten darüber, dass man doch gerne mal wieder wissen würde, was denn wirklich wirklich wichtig und richtig ist. Auch Germanisten tun sich offenbar schwer damit, dass ihr Fach mehr ein halbwegs bestimmtes Bündel an Perspektiven auf die Welt bietet, anstatt ein tradiertes Fachgebiet zu umzäunen und zu pflegen. Und Studierende sowie interessierte Zuschauer würden, so die Kritiker, daher derzeit vergeblich auf verständlichen Rat und hilfreiche Tat hoffen.

Mir dagegen hat das Studium der Germanistik gerade in dieser Hinsicht – die Welt zu befragen und meinen Platz darin zu suchen – so viel geholfen, wie sonst kaum etwas in meinem Leben: Texte sowohl im Einzelnen genau zu lesen als auch in die Masse der Kontexte zu fügen, mich selbst als Lesenden und Schreibenden zu verstehen, meine historische Position wie die meiner „Gegenstände“ zu reflektieren: Das hat mir beigebracht, eine enorme Komplexität auszuhalten. Nämlich hinzunehmen, dass die Welt nunmal ziemlich kompliziert ist, und dass ich sie mit dem Versuch, zu verstehen, eventuell sogar noch komplizierter (für mich) mache. Und dennoch zu lesen, zu schreiben und darüber zu reden.

Wenn ich nun meinen SchülerInnen beibringe, dass ein Song von Bilderbuch davon profitiert, dass wir ihn ernst nehmen, und dass wir dadurch eine ganze Menge über Musik, Kunst, Künstler-Bilder, Lyrik und Selbst-Inszenierungen lernen können, dann mache ich mein Fach freilich sehr komplex, lasse tradierte Vorstellungen seiner Ränder bröseln. Aber mir scheint es doch weitaus wichtiger, dass sie ihre Welt als etwas durch und durch „reales“, eben: als etwas ernstzunehmendes verstehen lernen.

Wie sonst sollen sie sich Urteile bilden lernen? Wie sonst sollen sie diese zu revidieren lernen? Wie sonst sollen sie ihren Platz in der Schule und den Platz der Schule in der Welt verstehen lernen?

Die Bloggerin Lisa Rosa verweist in einem aktuellen Post darauf, dass Schulen schlecht darin seien, kritisches Denken systematisch wie praktisch auszubilden. Schüler, so Lisa Rosa, lernen oftmals nur Spezialfälle kritischen Denkens, die sie im Glücksfall verstehen – und im Sonderglücksfall sogar soweit durchdringen, dass sie den Vorgang und die Regeln der Kritik auf andere Gegenstände übertragen können. Das leuchtet mir ein. Sowohl was meine eigene Lernbiografie angeht, als auch im Hinblick auf viele Unterrichtserfahrungen.

Rosa hebt hervor:

Kritisieren, wie es hier verstanden werden soll, heißt aber weder „schlecht machen“ noch vom Handeln abhalten.  Es stammt vom griechischen krinein = unterscheiden ab. Unterscheiden ist der Ausgangspunkt der Analyse. Auch ein „kritischer Zustand“, in dem etwas auf der Kippe steht, also fraglich ist, ob es in diese oder jene Richtung fallen wird, hängt an dem Begriff der Unterscheidung. Und ebenso ein „kritischer Faktor“, mit dem ein Element gemeint ist, auf das es für das Funktionieren des Ganzen entscheidend ankommt.

Gerade aus diesem Grund scheint mir die Öffnung der Germanistik hin zu einem eher kulturwissenschaftlichen Ansatz mit einem sehr weiten Textbegriff auch im Hinblick auf die Schule so wichtig. Die Klage vieler Schüler über unnützes Spezialwissen, typischerweise: Lyrik-Interpretationen, kann ich gut verstehen, wenn kaum oder gar nicht vermittelt wird, warum es denn sinnvoll erscheinen mag, solche komplizierten und manchmal auch recht alltags-fernen Texte so eingehend zu betrachten. Etwa um sie von anderen Texten zu unterscheiden, um damit Wertungen zu hinterfragen, anstatt sie nur zu reproduzieren.

 

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